Das Amulett der Pilgerin - Roman
tadelnd an. Kein Wunder, dass ihr Mann nicht neben ihr sitzen wollte! Viviana starrte vor sich hin. Wie sollte sie jetzt am besten vorgehen? Vielleicht hatte sie Glück und würde noch jemand anderen treffen, der ihn kannte. Vielleicht hatte er öfter in Shaftesbury zu tun? Wie wenig sie über ihn wusste. Rinaldos Warnung klang Viviana in den Ohren, Julian nicht zu trauen. Bei dem Gedanken an Rinaldo durchflutete sie schlechtes Gewissen. Hoffentlich war er noch am Leben! Sie war so mit ihrer Suche nach Julian beschäftigt, dass sie nach Rinaldo eigentlich immer nur in einem Nachsatz fragte. Welch eine schlechte Freundin war sie ihm. Viviana atmete tief durch, diesmal geräuschlos. Sie würde weiter nach Julian und Rinaldo suchen, was blieb ihr auch anderes übrig? Immerhin gab es hier jemanden, der mit Julian bekannt war. Möglicherweise war er nicht der Einzige, und vielleicht würde sich dann diese rätselhafte Andeutung des Mannes aufklären. Sie musste der Abtei sowieso ihren Leichenfund melden, da konnte sie dann auch gleich nach Julian fragen.
Als sie eine Dreiviertelstunde später erneut an der Klosterpforte stand, antwortete ihr dieselbe Nonne wie zuvor. Sie schien Viviana nicht wiederzuerkennen und holte gerade tief Luft, um die Zeiten der Messe für Pilger aufzusagen, als Viviana sie unterbrach.
»Ich möchte gerne etwas melden, es handelt sich um ein Verbrechen.«
Die Nonne seufzte.
»Sollten Sie das nicht eher dem Sheriff melden?«
Die Gerichtsbarkeit in Städten wie Shaftesbury war kompliziert, da die Zuständigkeiten zwischen der kirchlichen Autorität und der Stadt oder einem Lehnsherrn oder dem König aufgeteilt waren. Jeder war für seinen Besitz zuständig, aber natürlich gab es immer Überschneidungen.
»Ich glaube, es ist eher Sache der Abtei. Ich habe eine Leiche gefunden, und sie trägt eine Benediktinerinnen-Tracht.«
Die Nonne, die bisher keinerlei Interesse an ihr gezeigt hatte, riss erschrocken die Augen auf und bekreuzigte sich.
Wenig später saß Viviana einem Mann mit schütterem Haar und sorgfältig gelocktem Bart gegenüber. Seine reich verzierte Jacke und die aufgeplusterten Ärmel passten nicht recht zu der strengen Einrichtung des Besucherzimmers. Er hatte sich nicht mit seinem Namen, sondern mit seiner Funktion vorgestellt, nämlich als der Stellvertreter des Propstes. Der Propst nahm viele der weltlichen Verwaltungsaufgaben des Klosters wahr und war ein wichtiger Mann. Sein Stellvertreter war, seinem Gebaren nach zu urteilen, mindestens ebenso wichtig, wenn nicht gar wichtiger.
»Nun? Was haben Sie zu melden, Miss?«
Gottlob konnte Viviana mit einer Leiche aufwarten, denn nichts Geringeres hätte die Störung einer so wichtigen Person rechtfertigen können.
»Vor drei Tagen habe ich etwa einen Tagesritt nördlich von hier im Moor eine tote Frau gefunden, sie trägt eine Tracht.« Viviana kam direkt zur Sache.
Die Mundwinkel des Stellvertreters zuckten kurz, doch ansonsten regte sich nichts in seinem Gesicht.
»Wo?«
»In der Nähe von Amesbury.«
»Wir vermissen keine unserer Schwestern, sie muss wohl aus Amesbury kommen.«
»Das Gleiche wurde mir dort gesagt.«
Wieder zuckten die Mundwinkel kurz.
»Nun denn. Hat man die Tote geborgen?«
»Das weiß ich nicht.«
Sie blickten einander einen Moment lang an. Viviana konnte seinen Blick nicht recht deuten, es schien, als versuchte er, sie einzuschätzen. Er strich sich mit seinen manikürten Fingern über den Bart. Der Ausdruck in seinen Augen beunruhigte Viviana. Eine Schweißperle bildete sich an seinem dünnen Haaransatz und rollte langsam über die Schläfe an der Wange entlang und verschwand in dem Bart. Der Stellvertreter löste die Verschnürung seiner Überjacke, um sich ein wenig abzukühlen. Warum war er plötzlich so nervös geworden, fragte sich Viviana, als ihr Blick auf die ärmellose Weste fiel, die unter der Überjacke zum Vorschein gekommen war. Die Weste war mit Knöpfen verziert, mit etwas zu protzigen, silbernen Knöpfen, in deren Mitte ein roter Punkt gemalt war. Es waren aufwändig gearbeitete, teure Stücke, nur der unterste Knopf war etwas kleiner und hatte keinen roten Punkt. Ein kalter Schauer überlief Viviana. Der Knopf, den sie bei der Leiche gefunden hatte, war groß und silbern und hatte eine runde, rote Verzierung in der Mitte. Jetzt schien er wie ein Stück Glut ein Loch in den Beutel zu brennen, der in ihrer Rocktasche verborgen war. Sie war geradewegs in die Höhle des Löwen
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