Das Amulett der Zauberin: Roman (German Edition)
Spezialist für Gesichtsverbrennungen. Patienten und Kollegen beschrieben ihn mit Worten wie »Genie« und »Wunderheiler«. Um Allison willen betete Eve, dass sie recht hatten.
Matts Worte klangen in ihrem Kopf.
An der Pinnwand in ihrem Büro hing ein Bild von Allison und Cassidy im Sommer vor ihrem ersten College-Jahr. Sie waren gerade von einem riesigen Einkaufstrip fürs College zurückgekehrt und saßen auf der Veranda, umgeben von Massen von Zeug – Kleidertüten und Schuhkartons, riesige Kissen und einem winzigen Kühlschrank, und ein Paar von Lampen mit perlenbestickten Schirmen. Pink für Cassie und Lavendel für Allison. Einfach zwei hübsche, blauäugige Blondinen mit perfekter Haut und perfekten Zähnen und einem Alptraum vor sich, von dem sie noch nichts ahnten.
Allie hatte ihr anvertraut, dass sie genau wusste, dass ein cassieförmiges Loch für den Rest ihres Lebens in ihrer Welt klaffen würde. Eve hatte ihr versichern wollen, dass sie falschlag, dass die Zeit alle Wunden heilt, aber sie konnte nicht lügen. Stattdessen hatte sie ihr erzählt, dass mit der Zeit der Schmerz ihres Verlustes abstumpfen würde, und so unmöglich es auch klang, irgendwann würde sie nicht mehr als Erstes am Morgen daran denken und als Letztes vor dem Einschlafen. Aber wo ihre Schwester sein sollte, würde immer ein Loch klaffen. Sie würde es mit sich herumtragen, egal, wo sie hinging – wie einen Schatten, wie das fehlende Glied eines Amputierten, das noch lange Zeit weh tut, obwohl es gar nicht mehr da ist.
Matts Worte verfolgten sie, und erst als sie mit Allie und ihrer Mutter im Behandlungszimmer war, ging ihr auf, dass sie nur die halbe Wahrheit gesagt hatte, als sie behauptete, man könne jetzt nur die Daumen drücken. Es stimmte, dass er nur die Daumen drücken und für das bestmögliche Ergebnis beten konnte. Aber wenn sie sich dazu entschloss, könnte sie um einiges mehr tun.
Die Frage war nur, sollte sie es tun?
Sie hatte keine Zeit, über die möglichen Konsequenzen nachzudenken oder über die feineren moralischen und ethischen Argumente für und gegen Magie, um Allie ein wenig von dem zurückzugeben, was ihr genommen worden war.
Hazard hatte recht: Die Magie abzulehnen war ihr Weg, Buße für ihre Fehler zu tun. Aber was, wenn es einen besseren Weg gab?
Dr. Abrams löste bereits den Verbandsstoff, der die Kompresse auf Allies Stirn hielt. Das Mädchen saß ihm zugewandt auf dem Behandlungstisch, während Eve und Olivia Snow hinter ihr standen.
Ihr Vater hatte sich entschieden, draußen zu warten. Er hatte einen schmerzenden Magen vorgeschoben, aber während der gesamten Tortur der monatelangen Behandlung hatte Eve Daniel Snow nie zimperlich erlebt. Sie ging davon aus, dass es nicht der Anblick von schmutzigen Verbänden oder frischen Narben war, der ihm Angst machte, sondern der Schmerz und die Enttäuschung, die er vielleicht in den Augen seiner Tochter sehen würde. Sie hatte bereits so viel durchgemacht. Sie alle hatten das. Was auch immer geschah, Allisons Gesicht war auch für ihre Eltern eine ständige Erinnerung an Cassie. Die unsichtbaren Wellen von Angst und Hoffnung, die von ihrer Mutter ausgingen, waren mindestens so stark wie das, was sie von Allie selbst auffing. Wie konnte sie nicht alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihnen zu helfen?
Sie war immer noch gegen Magie. Zumindest glaubte sie das. Es war plötzlich alles so kompliziert. Einst war ihr Widerstand eindeutig, und die Angelegenheit war schwarz-weiß gewesen wie ein reinrassiger Dalmatiner. Jetzt gab es graue Stellen, und die Grenze zwischen schwarz und weiß war verschwommen, bis sie kaum noch erkennbar war.
Sie hatte ihre eigenen Regeln bereitwillig gebrochen, um Hazard zu helfen, weil sie der Meinung war, dass ihm Unrecht angetan worden war und er eine zweite Chance verdiente. Verdiente Allie nicht dasselbe?
Natürlich tat sie das. Wenn es einen moralischen, rechtschaffenen Grund dafür gab, dass ein unschuldiges neunzehnjähriges Mädchen ihr Leben lang entstellt verbringen sollte, wollte Eve ihn gar nicht hören. In diesem Moment waren ihre einzigen Bedenken logischer Natur. Was, wenn sie die Realität auch nur ein wenig veränderte und damit einen aufwendigen, minutiös ausgearbeiteten kosmischen Plan zerstörte, der der gesamten Menschheit zugutekommen sollte? In anderen Worten: Was, wenn sie gegen das Schicksal handelte?
Andererseits, wenn es tatsächlich einen großen kosmischen Plan gab, dann hatte sie ihren
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