Das Amulett der Zauberin: Roman (German Edition)
knapp, als sie Eves Stichwortliste für eine Nachberichterstattung durchlas, das größte der Projekte, an denen Eve gerade arbeitete. Vor einem Jahr hatte ein Feuer einen Schlafsaal im obersten Stockwerk des Newberry Colleges verwüstet, wobei sechs Studenten ums Leben gekommen waren und ein Dutzend weitere schwere Verletzungen erlitten. Brände waren etwas, über das Eve sonst tunlichst nicht berichtete. Diese Art von Leid und Verlust traf sie zu persönlich. Aber etwas an dieser Geschichte hatte sie fasziniert. Oder, genauer gesagt: jemand.
Die Studienanfängerin Allison Snow, eines der Verbrennungsopfer, hatte im Feuer ihre Zwillingsschwester Cassidy verloren. Nach der Katastrophe kämpfte sie mit einer Lawine aus Trauma und Trauer und Schmerz, die schon vernichtend genug war; dann versetzte ihr der Bericht des Brandermittlers den nächsten Schock. Er kam zu dem Schluss, dass das Feuer vom Funkenschlag einer gebrochenen Elektroleitung ausgelöst worden war, der einige Papierdekorationen in Brand gesetzt hatte. Diese Dekorationen hatte Allison selbst aufgehängt, für eine Party am Wochenende. Diese Enthüllung berührte etwas tief im Innersten von Eve, und sie war unfähig gewesen, sich von der Story abzuwenden.
Sie besuchte Allison zum ersten Mal, als sie noch mit Verbrennungen zweiten und dritten Grades im Krankenhaus lag. Verbrennungen, die sich von ihrer linken Gesichtshälfte den gesamten Körper hinunter bis zum linken Knie zogen. Sie hatte die Erstbehandlung – eine unglaublich schmerzhafte Säuberung der Haut von totem Gewebe – schon hinter sich, aber viele Monate mit Hautverpflanzungen und Operationen und Physiotherapie lagen noch vor ihr. Und selbst danach erwartete sie wahrscheinlich ein Leben voller Narben, sowohl körperlicher als auch seelischer Natur, die sie immer an diese Nacht erinnern würden. Eve arbeitete an einer Sendereihe über die Folgen des Feuers, die der Erinnerung an die Toten gewidmet war und zeigen sollte, wie viele Menschen von dem Feuer betroffen waren. Sie fing mit den Opfern und ihren Familien an, dann ging es weiter mit den Feuerwehrmännern, die anderen das Leben gerettet hatten, den Ärzten und Schwestern, die rund um die Uhr um das Leben der Verletzten gekämpft hatten, und schließlich berichtete sie noch darüber, welche Auswirkungen das Feuer auf die Lehrer und Studenten des Colleges gehabt hatte.
Allisons und Cassidys Geschichte war ein Teil davon. Sie wollte Allie die Chance geben, sich an ihre Schwester zu erinnern, wie nur sie es konnte. Aber sie hatte von Anfang an klargemacht, dass das nicht ihr einziger Grund war, Allie zu besuchen und dass sie immer wiederkommen würde, selbst wenn Allie kein Interview geben wollte. Eve sagte ihr, dass es jemanden gab, der ihre Gefühle nicht einfach beiseitewischte. Dass es jemanden gab, der sie verstehen konnte, weil sie selbst genau wusste, wie es war, in diesem Netz aus Trauer und Schuldgefühlen und Reue gefangen zu sein.
Schon beim Betreten des Krankenhauszimmers hatte Eve den Blick in den Augen des Mädchens erkannt. Es war derselbe verlorene, gehetzte Blick, den sie selbst noch Jahre nach dem Feuer in den Augen gehabt hatte – nachdem das Feuer ihre Eltern getötet und das Leben, wie sie es kannte, für immer zerstört hatte. Sie wusste, dass hinter diesem Blick eine ständige Schleife von »Was wäre wenn …?« und »Wenn ich nur …« durch das Hirn geisterte. Sie wusste, was für ein einsames, furchtbares Gefühl es war, sich selbst die Schuld zu geben, wenn niemand anderes es tat.
Angela las den letzten Absatz in Eves Notizen und hob den Kopf. »Mir gefällt es. Besonders gefällt mir die Idee, Teile aus früheren Interviews in die neuen einzuschneiden. Hast du jeden kontaktieren können, mit dem du auch letztes Jahr gesprochen hast?«
»So gut wie. Ein Professor ist emeritiert und nach Florida gezogen, und ein paar Studenten haben das College gewechselt. Ich haben jemanden drauf angesetzt, die neuen Adressen rauszufinden, aber keiner davon ist so wichtig, dass ich nicht auch ohne sie auskommen würde.«
»Gut. Ich habe ein paar von den Bändern angeschaut, die du schon gedreht hast. Zu Allison Snow hast du eine ziemlich enge Verbindung.«
»Unglücklicherweise haben wir viel gemeinsam.«
Angela nickte, ohne etwas zu sagen. Sie wusste ein wenig über Eves Vergangenheit, aber sie neigte nicht zum Nachbohren oder zur Rührseligkeit, und dafür war Eve ihr dankbar.
»Wann werden Allisons Verbände
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