Das Amulett der Zauberin: Roman (German Edition)
oder wie er an dem Fensterbrett in ihrem Büro lehnte und sie auf diese konzentrierte, verwirrende Art und Weise beobachtete, als wäre er vollkommen von ihr gefesselt und gleichzeitig misstrauisch. Gerade als sie anfing, darüber nachzugrübeln, was dieser Blick genau bedeutete, ertappte sie sich dabei und schüttelte den Kopf. Das absolut Letzte, worauf sie momentan Zeit verschwenden sollte, war herauszufinden wie Hazard tickte.
Sie warf einen Blick an die Kühlschranktür, aber dort hing keine Nachricht für sie. Als Nächstes sah sie in Rorys Zimmer nach. Keine Rory. Aber auch keine Kleidung auf dem Bett und keine Schultasche auf dem Boden. Das erklärte wahrscheinlich die fehlende Nachricht. Vielleicht war sie nach der Schule gar nicht nach Hause gekommen. Vielleicht hatte sich plötzlich etwas ergeben, und Rory saß irgendwo in der Bibliothek und lernte oder war mit Freunden unterwegs.
Es sah ihr nur gar nicht ähnlich, sich weder zu melden noch eine Nachricht zu hinterlassen.
Sie hatten nicht viele Regeln. Sie hatten sie nie gebraucht. Rory war ein gutes Kind. Wenn überhaupt, war sie zu reif und vernünftig für ihr Alter. Aus Eves küchenpsychologischer Sicht war das eine direkte Reaktion auf das abgehobene, verrückte Verhältnis ihrer Mutter zum Leben, zur Liebe und zum gesamten Universum. Chloe – zumindest die frühere, ein wenig zu freigeistige Chloe – hätte sich vielleicht von einer momentanen Eingebung hinreißen lassen und wäre verschwunden, ohne jemanden wissen zu lassen, wo sie hinging, aber nicht Rory.
Trotzdem war es zu früh, um sich Sorgen zu machen.
Aber nicht zu früh, entschied Eve, um sie auf dem Handy anzurufen und zur Not überbesorgt zu erscheinen. Der Anruf lief direkt auf die Mailbox. Rory konnte ihr Telefon ausgestellt haben, weil sie in der Bibliothek saß oder mit Freunden im Kino war oder aus tausend anderen unschuldigen Gründen.
Oder, dachte Eve und erinnerte sich an das Geräusch, das die Laser der Hexer erzeugt hatten, als sie nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt die Luft durchschnitten hatten, sie konnte in ernsthaften Schwierigkeiten stecken.
Die nächste Welle von Sorge, diesmal stärker und greifbarer, trieb sie in Grans Küche, um nach dem Anhänger zu schauen. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass er in dem kleinen Geheimversteck unter der Spüle sicher aufgehoben war. Eve hatte schon ein schlechtes Gefühl, bevor sie die Schranktür öffnete. Sie griff hinein und musste die Hand unverrichteter Dinge zurückziehen. Der Anhänger war nicht da, und ihr lief ein kalter Schauder über den Rücken.
Sie suchte nach einer Taschenlampe, kniete sich hin und suchte noch einmal genauer. Angestrengt spähte sie hinter die Wasserleitungen. Sie ließ die Finger über die Stelle gleiten, wo der Anhänger liegen sollte, als wäre er über Nacht vielleicht unsichtbar geworden. Es war schon Seltsameres geschehen, dachte sie. Aber sie fühlte nur die Reste von Grans Schutzzauber an ihren Fingern wie Fetzen zerrissener Seide.
Der Schutzzauber, das magische Äquivalent einer Alarmanlage, hätte jeden, der nicht zur Familie gehörte, davon abgehalten, den Anhänger zu berühren. Das schränkte die Möglichkeiten extrem ein. Wenn Gran ihn genommen hätte, hätte sie Eve darüber informiert. Und Chloe war Tausende von Kilometern entfernt. Damit blieb nur Rory, die keine Ahnung hatte, dass der Talisman überhaupt existierte, und noch viel weniger, dass er unter Grans Spüle versteckt war. Die Chance, dass sie zufällig darüber gestolpert war, ging gegen null.
Jemand hätte sie darauf hinweisen müssen. Jemand, der wusste, dass Eve den Anhänger hatte und genauso einfach herausfinden konnte, wo sie lebte, wie er herausgefunden hatte, wo sie arbeitete und wer zu ihrer Familie gehörte. Das Haus selbst war gegen Eindringlinge geschützt – weitere Maßnahmen, die Gran ergriffen hatte und die sie ignoriert hatte, weil niemand davon wusste –, aber die Schutzzauber hätten nicht verhindert, dass Rory jemanden ins Haus ließ, jemanden, der die Fähigkeit hatte, jedes Hindernis wegzureden, jemand, dessen attraktive, finstere Rockstar-Ausstrahlung eine Fünfzehnjährige sicherlich angesprochen hätte. Jemand, der vielleicht sogar behauptet hatte, ein Freund der »weltbesten Tante« zu sein. Und wenn dieser Jemand spüren konnte, wo der Anhänger versteckt war, und die Macht hatte, Rory entweder zu überreden oder dazu zu zwingen, zu tun, was er wollte …
Jetzt war die Zeit
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