Das Amulett von Gan (German Edition)
Tropfen fielen nicht hinunter, sondern ordneten sich in der Luft schwebend neu an: Ihre Farbe veränderte sich, und zum Vorschein kam eine alte Frau.
Finn, Pendo, Chika und Joe schauten mit offenem Mund dem Schauspiel zu, das da vor ihren Augen stattfand. Ihre Hände hielten sie immer noch auf die Amulette gedrückt. Keiner wagte es, sich zu rühren oder auch nur ein Wort zu sagen.
Die Frau, die nun freundlich lächelnd vor ihnen stand, erinnerte Finn an die schemenhafte Gestalt, die ihm in der Dachmansarde bei seinen Großeltern erschienen war. Sie war recht klein, nicht viel größer als sie selbst, hatte silbergraues Haar, das sie zu einer eleganten Frisur hochgesteckt hatte, und trug ein langes weißes Kleid mit einem goldenen Gürtel. Auf der Schnalle erkannten die Mädchen und Jungen die gleiche kreuzförmige Zeichnung, die sie schon von den zusammengelegten Amuletten kannten. Die Frau musste sehr alt sein, denn ihr Gesicht hatte schon viele tiefe Falten. Dennoch erkannte man sofort, wie schön sie einmal gewesen sein musste. Sie strahlte große Würde und Freundlichkeit aus. Die vier waren sprachlos und schauten unsicher zu ihr hinüber.
»Seid gegrüßt, Trägerinnen und Träger der Amulette, die Ihr von den vier Enden der Erde gekommen seid«, sagte die Frau mit einer weichen Stimme und verneigte sich ein wenig vor Pendo, Chika, Finn und Joe. Erst jetzt ließen die vier die Amulette los und versuchten, die passenden Worte zu finden. Pendo hatte sich als Erste wieder gefasst und grüßte höflich. »Guten Tag«, flüsterte sie und fragte unsicher: »Wer sind Sie? Und wo sind wir hier?«
Die Frau erwiderte lächelnd: »Mein Name ist Nebijah, ich bin die Hüterin der vier Lebensströme, verehrte Pendo aus den südlichen Landen. Ihr seid im Lande Gan. Herzlich willkommen.«
»Woher wissen Sie, wie ich heiße?«, entfuhr es Pendo, der es nicht geheuer war, dass die Fremde ihren Namen kannte.
»Ich kenne Euch«, sagte sie und begann sich umzuschauen. »Hier haben wir Finn aus den nördlichen Landen. Dann haben wir hier Chochuschuvio aus den westlichen Landen und Chika aus den östlichen Landen.« Während sie die Namen sagte, verneigte sie sich leicht vor jedem Kind.
»Was sagten Sie gerade, wo wir hier sind? Im Land Gan? Davon habe ich noch nie gehört«, stellte Finn fest, der verzweifelt seine Geografiekenntnisse nach einem Land mit diesem Namen durchforstete.
»Das Land Gan«, erklärte Nebijah freundlich, »ist bekannt als einer der Gärten Gottes, ein Land voller Schönheit, Glück und Frieden.«
»Und wo soll das sein? Ist das auf unserer Erde?«
»Ja, das Land Gan liegt auf der Erde. Aber sehen können es nur seine Bewohner und wenige Auserwählte, denn uralte Kräfte schützen es vor der Außenwelt.« Nebijah sah in die fragenden Gesichter der Kinder und fuhr fort: »Ihr habt natürlich viele Fragen auf dem Herzen. Deshalb lasst mich erklären. Das Land Gan existiert seit Anbeginn der Welt. Hier ist noch etwas von dem Zauber zu spüren, der die Erde bedeckte, als sie entstand. Alle Völker der Welt haben hier ihre Wurzeln, denn vom Lande Gan aus zogen die Menschen vor vielen Tausend Jahren in ferne Gegenden, um den Erdkreis zu bevölkern. Jeder Mensch hat hier sein wahres Zuhause. Noch heute ist Gan die Mitte der Erde – und hier ist es, wo die vier Ströme entspringen, von denen alles Leben auf dieser Erde abhängt.
Die Menschen vergaßen im Laufe der Jahrhunderte ihre Herkunft. Unser Land geriet in Vergessenheit und mit ihm die Leben spendende Kraft der vier Ströme. Entfremdet von dieser Lebensquelle wurden die Menschen böse. Ihre Herzen verhärteten sich. Krieg und Gewalt erschüttern seitdem immer wieder unsere Erde. Und wenn Menschen sich doch einmal hierher verirrten,richteten sie meist nur Zerstörung an. Sie waren mehr an den Schätzen unseres Landes interessiert als an seiner Schönheit und den Lebensströmen.
Um das Land zu bewahren wurde einst ein besonderer Schutz über Gan gelegt. Die Bosheit der Menschen und aller finsteren Mächte von den Enden der Erde sollte nie mehr den Weg nach Gan finden.«
»Aber warum dürfen wir dann hier sein?«, fragte Chika. »Wir gehören doch auch zu diesen Menschen von den Enden der Erde, oder?«
»Da habt Ihr recht. Wir mussten zwar unser Land vor aller Bosheit schützen, aber wir hatten nicht das Recht, die Menschen und Tiere außerhalb von Gan von der Kraft der Lebensströme auszuschließen. Alle Lebewesen, egal, wie gut oder böse sie
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