Das Amulett
er Anspruch auf das beste Nachtlager. Er musste oft an den hünenhaften, stolzen Ul‘goth denken. »Wie hättest du gehandelt, alter Freund?«, fragte Gallak in die Stille des Raumes. Seine Stimme erklang matt und wurde von dem riesigen Fellhaufen vor ihm verschluckt.
Ul‘goth hatte Wantoi getötet und Wurlagh verschont. Ihre Geschichten schienen sich zu wiederholen, ihre Schicksale miteinander verknüpft. Doch in Gallaks Augen mussten sie endlich aufhören, einander zu bekämpfen. Sie brauchten ein gemeinsames Ziel. Ul‘goth hatte den richtigen Weg eingeschlagen und die Folgen dafür in Kauf genommen. Nun lag es an Gallak, diesen Weg weiter zu gehen.
Er bereute nicht, Wurlagh verschont zu haben, selbst wenn er dadurch einem hasserfüllten Feind den Rücken zugekehrt hatte.
Zum ersten Mal, seit er und Ul‘goth ihre Bilder einer besseren Zukunft gezeichnet hatten, spürte Gallak die Last der Verantwortung auf seinen Schultern. »Wir haben uns viel vorgenommen«, sprach er zu dem Haufen Felle, als würde Ul‘goth darauf liegen und ihn ansehen. »Wie hast du es geschafft, niemals zu zweifeln?« Die Frage schwebte unbeantwortet im Raum. Gallak vermutete, dass auch Ul‘goth häufig Bedenken gehabt haben musste. Wiederholt hatte er den Freund in trüben Gedanken versunken erlebt. Dennoch hatte er an seiner Vision festgehalten, und Gallak würde sie nicht aufgeben. »Für dich, Ul‘goth, Bezwinger«, sagte er und hob einen imaginären Bierkrug zum Gruß. »Oder sollte ich dich eher ›Befreier‹ nennen?« Dieser neue Titel gefiel Gallak weitaus besser. Ein wenig erleichtert legte er sich auf den riesigen Fellhaufen. Er würde noch viele Probleme meistern müssen, doch er würde Ul‘goth zu Ehren nie von dem neuen Weg für das Volk der Orks abweichen.
Wahre Erkenntnis
Jede Handbewegung des jungen Magiers wurde von seinem alten Lehrer genau beobachtet. Und dem Meister der Magie entging nichts – nicht der kleinste Fehler in der Fingerstellung oder die unscheinbarste undeutliche Betonung. Gordan wusste auf jede Frage eine Antwort und stand Dezlot stets zur Seite.
Der Junge machte gute Fortschritte. Erst etwas mehr als einen halben Mondumlauf war er Gordans Schüler, dennoch meisterte er bereits jedes der Elemente in seiner einfachsten Form. Er konnte eine Kerze entzünden und sie dann mit einem Windstoß ausblasen. Mit bloßen Gedanken vermochte er, einen Klumpen Erde zu verformen, um ihn anschließend mit einem feinen Wasserstrahl aus seinem Finger hinwegzuspülen. Gordan war sichtlich erfreut über Dezlots Auffassungsgabe, und auch der Junge schien zufrieden mit sich. Malvner hatte ihn viel gelehrt, doch eigenständiges Zaubern war ihm zumeist untersagt worden.
Gordan ließ ihn seine Kräfte viel freier erproben – ja, der alte Mann ermunterte ihn sogar zum Experimentieren. So hatte Dezlot erst am vergangenen Tag versucht, ob er auch Feuer auf einer Wasseroberfläche zu erzeugen vermochte. Dabei hatte er schnell erkannt, dass die Wasseroberfläche etwas völlig anderes war als eine einfache Tischplatte. Immer wieder war er gescheitert – die Flamme erlosch stets, gleich nachdem sie sich gebildet hatte.
Nun saßen sie gemeinsam in der großen Bibliothek des Arkanums. Dezlot studierte einige Folianten über die Natur der Elemente, von denen Gordan etliche verfasst hatte. Der alte Magier ging seinen eigenen Studien nach, über die er dem jungen Dezlot allerdings nie etwas erzählte, und Dezlot stellte keine Fragen. Er schätzte sich glücklich, von einem so mächtigen Magier wie Gordan zu lernen und wollte dieses Glück nicht durch vorlaute und unbedachte Fragen trüben.
Malvner hatte deutlich weniger Bücher und andere Schriften besessen. Hier in Surdan fand Dezlot beinah auf jede Frage eine passende Antwort. Nur ein Rätsel konnte er nicht lösen: »Was glaubt Ihr, wer Malvner getötet hat?«, fragte er den alten Magier häufig.
Gordan schaute von dem Buch auf, das er gerade studierte, und blickte dem Jungen warmherzig in die Augen. »Du solltest dich nicht mit Gedanken an Rache plagen, Dezlot. Rache zerfrisst den Geist und lässt dir niemals Ruhe.«
»Ich muss es aber wissen!«, beharrte der junge Mann. »Malvner war ein guter Lehrer und ein noch besserer Mensch. Er hat mich aus einem Armenhaus gerettet. Ich bin es ihm schuldig.«
Gordan atmete hörbar mit geblähten Nasenflügeln aus. »Gar nichts bist du ihm schuldig«, sagte er schließlich verstimmt. »Malvner hätte gewollt, dass du deine
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