Das Anastasia-Syndrom
heute gemerkt, was Judith entgangen war. Man folgte ihnen.
Es gab so viel zu tun. Sie hatte beschlossen, wo die nächste Sprengladung plaziert werden sollte. Besaß sie die Kraft, Judith abermals zu bezwingen?
Inspector Lynch verbrachte einen guten Teil des folgenden Tages vor dem Kosmetiksalon von Harrods. Als Judith um 17 Uhr auftauchte, wirkte sie ausgeruht und glücklich – seidig glänzendes Haar, strahlendes Gesicht, makellos gefeilte Fingernägel.
Pure Zeitverschwendung, dachte Lynch, als er ihr zu einem Lokal folgte, wo sie eine Portion Spaghetti vertilgte und Chianti dazu trank, danach direkt nach Hause ging. Wenn die ’ne Terro-ristin sein soll, dann ist’s meine Großmutter schon lange, murmelte er vor sich hin, als er gegenüber von ihrer Haustür in einem Wagen Stellung bezog.
Sam Collins würde ihn bald ablösen. Die Version für Collins, einen überaus zuverlässigen Beamten, besagte, ein anonymes Schreiben habe Miß Chase beschuldigt, in die Sprengstoffanschläge verwickelt zu sein, was man zwar für lächerlich halte, dem man aber dennoch nachgehen müsse. Die Sache sei »streng geheim«, hatte man ihm eingeschärft.
Lynch registrierte, daß das Vorderfenster von Judiths Wohnung hell wurde. Nach Commander Sloanes Beschreibung muß-
te dort das Arbeitszimmer sein, also saß sie wieder am Schreibtisch. Kurz darauf erschien Collins. »Sie werden eine ruhige Nacht haben, das kann ich Ihnen versprechen«, meinte Lynch.
»Sie ist kein vergnügungssüchtiger Typ.«
Collins nickte. Er hatte grobe Züge und wirkte recht hausbak-ken. Doch der Schein trog. Lynch wußte aus Erfahrung, daß Collins geradezu verblüffend flink und wendig war.
Ursprünglich hatte Judith nicht vorgehabt zu arbeiten, aber nach der Massage samt kosmetischer Behandlung, Pediküre, Manikü-
re und Friseur fühlte sie sich so angenehm belebt, daß sie sich die noch zu redigierenden Seiten vornehmen wollte. Die strahlende Laune, in die sie der Anruf in Beverley morgens versetzt hatte, hielt den ganzen Tag über an. Die Auskunft gab ihr sofort die Nummer von Parrish Pages. Sie erkundigte sich daraufhin dort telefonisch nach den Öffnungszeiten und fragte beiläufig:
»Ist die Inhaberin immer noch Polly Parrish?«
»Freilich«, lautete die Antwort. »Sie muß jeden Moment hier sein. Soll sie Sie zurückrufen?«
»Nicht nötig. Jedenfalls vielen Dank.«
Morgen, hatte Judith tagsüber ständig gedacht. Morgen werde ich sie sehen. Und bis zu den Wahlen sind es nur noch ein paar Tage. In den vergangenen Wochen hatte sie den Gedanken an die vor ihr liegenden gemeinsamen Jahre mit Stephen beiseite geschoben. Jetzt wünschte sie sich sehnlich, nach Edge Barton zu fahren und ungestört Tage und Wochen mit ihm zu verbringen. Tage und Wochen ungestört, wenn Stephen Premierminister wurde? Judith lächelte traurig – sie könnten sich glücklich schätzen, wenn sie ungestörte Stunden hätten!
Die Hand ans Kinn gelegt, sah sie sich liebevoll in Lady Ardsleys winziger Bibliothek um, die sie als Arbeitszimmer benutzte. Alte Klassikerausgaben, dazwischen Renaissancedich-tungen, viktorianischer Krimskrams neben hauchdünnem alten Porzellan, ein gestärktes Spitzendeckchen auf einem bildschö-
nen Tisch aus der Zeit Jakobs I.
Edge Barton, mit den hohen, großen Räumen, den bezaubern-den Fenstern und alten Türen… Innen brauchte es ein paar be-hutsame Maßnahmen, eine weibliche Note. Manche Möbel müßten neu bezogen und aufgepolstert werden. Ebenso waren die Vorhänge zu erneuern. Eine lohnende Aufgabe, dachte Judith, Edge Barton meinen persönlichen Stempel aufzudrücken…
Zurück an die Arbeit. Das Royal Hospital.
Das hörte sich fast an wie der Befehl einer inneren Stimme.
Verdutzt strich sie sich das Haar aus der Stirn und bemerkte, daß sich die Narbe an der Hand hellrot verfärbt hatte. Ich werde einen plastischen Chirurgen aufsuchen wegen dieser verdammten Narbe, gelobte sie. Das ist doch verrückt, wie die dauernd kommt und geht.
Sie schlug rasch das letzte Kapitel ihres Manuskriptes auf, wo sie den Abschnitt über das Chelsea Royal Hospital markiert hatte. Karl II. hatte den entzückenden, wunderbar erhaltenen Bau als Heim für Invaliden und Veteranen errichten lassen.
Die Veteranen Karls II. Die Simon Halletts dieser Welt, die an den Rockschößen des Merry Monarch hingen! So nannten sie ihn – the Merry Monarch. Vincent auf dem Schlachtfeld gefallen, John hingerichtet, ich selbst hintergangen und gemordet
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