Das andere Kind
stolz gewesen zu sein, wenn ich mit ihm durch die Stadt lief und die Blicke
bemerkte, die fremde Frauen ihm zuwarfen. Das konnte einem mit Harold zweifellos nicht
passieren.
Hatte Mum das nötig gehabt?
Inzwischen kann ich das natürlich besser nachvollziehen. Nach heutigen Maßstäben war meine
Mutter mit Mitte dreißig eine durchaus noch junge Frau, damals aber galt sie bereits als in die
Jahre gekommen. Sie war Witwe, hatte ein Kind und kein Geld. Sie wollte nicht für den Rest
ihres Lebens allein bleiben, aber in ihrer Situation rannten ihr die Männer nicht gerade die
Tür ein. Zumal die meisten ihres Alters an der Front standen und gar nicht die Gelegenheit
hatten, auf Freiersfüßen zu wandeln. Mum war immer eine sehr pragmatische Person gewesen. Sie
hatte Harold Kane als eine echte und wahrscheinlich letzte Chance für sich gesehen, und sie
hatte sie ergriffen. Jetzt war sie entschlossen, das Beste daraus zu machen. Das Problem war
nur, dass ich dabei mitspielen sollte, und alles in mir sträubte sich dagegen.
Es gab Kartoffeln und Fleisch zum Abendessen. Das Fleisch war so faserig, dass man sich ständig
die Fäden aus den Zähnen ziehen musste, und die Kartoffeln kamen mir reichlich matschig vor.
Mum bemerkte, dass es mir nicht schmeckte.
»Das Essen war auf dem Land sicher besser«, sagte sie, und zum ersten Mal, seit sie mich gegen
meinen Willen aus Staintondale fortgeholt hatte, klang sie ein klein wenig entschuldigend.
»Hier in der Stadt haben wir ziemliche Engpässe durch den Krieg.«
Ich erwiderte darauf nichts. Was hätte ich auch sagen sollen? Nicht nur das Essen, einfach
alles war besser gewesen. Es wurde Abend. Um diese Zeit wäre ich sonst in die Bucht
hinuntergelaufen, hätte Chad getroffen. Wir hätten uns umarmt, ich hätte seinen Herzschlag an
meinem gespürt. Wir hätten uns gegenseitig von unserem Tag erzählt, und dann hätte ich einer
seiner wütenden Tiraden wegen seines ersehnten Kriegseinsatzes lauschen müssen ...
Ich schob meinen Teller weg. An Chad zu denken war einfach zu viel, ich brachte keinen Bissen
mehr hinunter.
Übrigens aß Harold auch nicht gerade viel, wie ich feststellte, dafür trank
er jede Menge Bier. Mehr, als gut sein konnte. Sein aufgeschwemmter Körper rührte
wahrscheinlich eher vom Alkohol her als von der höchst mittelmäßigen Kochkunst meiner Mutter.
Schon wieder ein Trinker! Damals stellte man bestimmte psychologische Betrachtungen noch nicht
an, sonst wäre auch mir wahrscheinlich schon klar geworden, dass es ein fatales Muster im Leben
meiner Mutter gab, dem sie immer wieder folgte: Ihr Vater war Alkoholiker gewesen, ihr erster Mann auch und ihr zweiter Mann nun
ebenfalls. Sie hatte einen Hang zu Säufern und schaffte es offenbar nicht, diese Spirale zu
unterbrechen. Dass sie, was das betraf, einfach auch eine Gefangene in sich selbst war, begriff
ich nicht. Ungläubig fragte ich mich nur immer wieder: Warum? Warum? Warum Harold
Kane?
Nach dem Essen ging ich sofort ins Bett, ich half nicht einmal, den Tisch
abzuräumen und zu spülen. Da man mir zugestand, sehr müde zu sein nach dem anstrengenden Tag,
widersprach niemand. Aber während ich mich in der drangvollen Enge meiner Kammer auszo g, hörte ich, wie sich nebenan Harold bei Mum
beklagte: »Sie kann mich nicht ausstehen! Das habe ich sofort gemerkt! «
»Der Tag heute ist eine große Umstellung für sie«, entgegnete Mum. »Sie hat sich sehr eng an
die Familie Beckett in Yorkshire angeschlossen und fühlt sich nun entwurzelt. Sie begegnet
allem hier mit Ablehnung. Du musst das nicht persönlich nehmen.«
»Ich denke, es war ein Fehler, sie gegen ihren Willen hierherzubringen«, sagte Harold, und ich
erstarrte, voller Hoffnung, die beiden würden vielleicht zu der Erkenntnis kommen, dass
...
Aber Mum zerstörte den Traum sofort. »Nein«, sagte sie mit aller Entschiedenheit, »es war kein
Fehler. Im Gegenteil, es wurde höchste Zeit. Sie war drauf und dran, sich vollständig in dieser
anderen Familie zu integrieren, und ich hätte viel eher einschreiten sollen.«
»Es war schließlich deine Idee damals, sie aufs Land zu schicken!«
»Du weißt, wie es war. Es regnete Bomben, Nacht für Nacht. Ich wollte mein einziges Kind nicht
verlieren. Aber ich will sie jetzt auch nicht auf andere Weise verlieren, verstehst du? Indem
sie eine andere Frau als ihre Mutter ansieht!«
»Wir tun ja alles, damit sie nicht dein einziges Kind bleibt«, sagte Harold, und
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