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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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jung, um zu begreifen, dass meine Mutter unter Schock
    stand, dass sie im Begriff war, ihr Baby zu verlieren, dies auch im Unterbewusstsein
    realisierte, sich aber mit aller Kraft gegen diese Erkenntnis wehrte. Sie wollte unter allen
    Umständen Harold den Sohn schenken, den er sich so heftig wünschte, sie hatte lange genug
    gebraucht, um schwanger zu werden. Auch ihre Mutterinstinkte gingen mit ihr durch, sie
    klammerte sich an das ungeborene Kind, versuchte, sich selbst und das Kleine vor der sachlichen
    und vermutlich vernichtenden Diagnose eines Arztes zu schützen. Sie verweigerte sich
    vollständig der Realität und setzte dabei ihr Leben aufs Spiel. Ich stand daneben, hilflos,
    eingeschüchtert durch die Schärfe in ihrer Stimme, mit der sie mir verbot, Hilfe zu
    holen.
    Gegen Abend konnte sie die Schmerzen nicht mehr ertragen, und endlich schien ihr klar zu
    werden, dass irgendetwas geschehen musste.
    »Lauf zur Werft«, flüsterte sie krächzend, »so schnell du kannst! Hol Harold. Er soll sofort
    kommen!«
    Zweifellos wäre es sinnvoller gewesen, direkt zum Arzt zu gehen, aber ich
    war schon erleichtert, die Verantwortung an einen Erwachsenen abtreten zu dürfen. Es war nicht
    allzu weit von unserer Wohnung zu der Werft, auf der Harold arbeitete, vielleicht
    fünfundzwanzig Minuten zu Fuß. Ich glaube, an jenem frostigen Februarabend des Jahres 1943
    schaffte ich die Strecke in knapp zehn Minuten. Obwohl überall gefährliche Eisplatten die
    Straßen bedeckt en, flog ich geradezu zwischen den Häuserzeilen hindurch, mit hämmerndem Herzen, Seitenstechen, einem ausgetrockneten
    Mund und pfeifendem Atem. Meine Panik verlieh mir Kraft. Mein Instinkt sagte mir längst, dass
    Mum sterben könnte, wenn ihr nicht geholfen wurde. Wir hatten viel zu viel Zeit verschwendet.
    Ich betete, dass ich Harold antreffen würde, dass er nicht schon gegangen war und in einem der
    vielen schäbigen Pubs an den Docks den ersten Drink des Abends zu sich nahm. Dann nämlich, das
    wusste ich, hatte ich fast keine Chance, ihn zu finden. Zum Glück erwischte ich ihn noch, als
    er sich gerade von seinen Kumpeln verabschiedete. Er war völlig perplex, als ich plötzlich aus
    der Dunkelheit vor ihm auftauchte. Ich rang nach Atem und krümmte mich unter den
    Seitenstichen.
    »Mum«, stieß ich hervor. »Du musst sofort heimkommen. Sie ist ... es geht ihr sehr
    schlecht!«
    Harold überraschte mich, indem er tatsächlich ohne langes Nachfragen oder Zögern im Laufschritt
    den Heimweg antrat. Ich hätte nicht geglaubt, dass sich dieser große, massige Mann so schnell
    bewegen konnte. Sein Gesicht war dunkelrot und glänzte von Schweiß, als wir daheim ankamen,
    aber er hatte nicht eine Sekunde innegehalten. Vermutlich konnten wir von Glück sagen, dass ihn
    dabei nicht noch ein Herzschlag ereilt hatte.
    Mum lag zusammengekrümmt auf dem Sofa, beide Arme um ihren Bauch geschlungen. Ihre Nase stach
    spitz aus ihrem eingefallenen, gelblichen Gesicht hervor. Ich konnte mir nicht erklären, wie
    das innerhalb so weniger Stunden hatte geschehen können, aber tatsächlich schien sie über den
    Nachmittag um Jahre gealtert und um viele Pfunde leichter geworden zu sein. Sie starrte ihren
    Mann aus riesigen Augen an.
    »Harold«, es klang wie ein Schluchzen, »ich glaube ... unser Sohn ... er ist...«
    »Unsinn«, sagte Harold, »wir werden den schönsten Jungen der Welt bekommen, du wirst schon
    sehen!«
    Er begleitete sie ins Krankenhaus. Für einen Augenblick hatte ich sein Gesicht gesehen, als er
    sich nicht Mum zuliebe verstellte. Es verhieß nichts Gutes.
    Ich habe nur noch undeutliche Erinnerungen an jenen Abend, an die darauf folgende Nacht. Ich
    glaube, ich versuchte mich abzulenken, indem ich die Wohnung aufräumte und das Blut vom Sofa zu
    waschen versuchte. Es gelang mir übrigens nicht ganz. Später war dort immer noch eine dunklere
    Verfärbung, und als Mum den Anblick überhaupt nicht mehr ertrug, musste Harold das Sofa
    fortschaffen. Ich habe nie erfahren, wo er es letztlich entsorgte.
    Schließlich, als es nichts mehr zu tun gab, wartete und wartete ich. Ich kochte mir Tee, setzte
    mich an den Esstisch und starrte die Wände an. Ich empfand schreckliche Schuldgefühle.
    Innerlich hatte ich einen solchen Widerstand gegen dieses Kind gespürt, hatte mir so oft
    gewünscht, es würde nie das Licht der Welt erblicken, und nun schien es, als seien meine
    geheimen Wünsche auf schreckliche Weise in Erfüllung gegangen. Und am Ende würde

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