Das andere Kind
mindestens zwei Stunden lang allein
gelassen hatte. Vermutlich war er Ängsten ausgeliefert, von denen ich keine Vorstellung hatte,
aber, zum Teufel, ich stand kurz vor meinem dreizehnten Geburtstag, ich war verliebt, ich
wollte wenigstens ein klein wenig mein Leben genießen. Mit der Betreuung eines neun- oder
zehnjährigen geistig zurückgebliebenen Jungen war ich gänzlich überfordert.
Auch rückblickend und ohne mich und mein Verhalten beschönigen zu wollen,
muss ich sagen, dass ich mich vermutlich ziemlich normal verhielt. Wäre Brian mein kleiner
Bruder gewesen, zu dessen Beaufsichtigung ich abgestellt worden wäre, hätte ich ebenfalls alles
versucht, mich dieser Verpflichtung zu entziehen, und wahrscheinlich hätte ich ihn alles andere
als besonders freundlich behandelt. Die meisten Mädchen meines Alters hätten das geta n. Das Problem war, dass Brian sich nicht wie
ein normal entwickeltes Kind dagegen zur Wehr setzen konnte. Jeder andere Junge hätte das ganze
Haus zusammengebrüllt, wäre er von mir eingesperrt worden, er hätte gegen die Tür gehämmert und
getreten und wäre nach wenigen Minuten von einem Erwachsenen befreit worden. Er hätte es auch
nicht hingenommen, mit eisigem Wasser überschüttet zu werden. Auch wenn ich die Ältere war,
hätte er seine eigenen Wege und Strategien gefunden, sich gegen mich zu
behaupten.
Brian war eben anders. Und ich war zu jung, seine Hilflosigkeit, sein
Ausgeliefertsein, wirklich zu begreifen und richtig einzuschätzen. Ich schwankte einfach
zwischen Anwandlungen von Mitleid und heftiger Gereiztheit, und die Gereiztheit überwog bei
Weitem. Wäre er nicht so anhänglich, so fixiert auf mich und zugleich keinerlei Vernunft, keinerlei Gespräch zugänglich gewesen,
vielleicht hätte ich zu einem etwas freundschaftlicheren Ton gefunden. So prallte ich an seinem
eingekapselten Verstand ab und hatte
nicht die Geduld, nicht die Ruhe, mich länger mit ihm auseinanderzusetzen.
Immerhin war ich über mein Verhalten an jenem Tag doch so erschrocken, dass ich mir in den
darauf folgenden Wochen etwas mehr Mühe gab. Mit der Konsequenz, dass Nobody sich noch inniger
an mich anschloss, und dass ich kaum mehr mit Chad allein sein konnte. Was meine Gefühle für
den kleinen Jungen nicht wärmer werden ließ.
Im Juni konnte Emma, erschreckend abgemagert und eigentlich nur noch wie ein Schatten
anzusehen, das Bett verlassen. Obwohl sie in den ersten Wochen noch sehr häufig meine
Unterstützung brauchte, konnte sie sich doch wieder um Nobody kümmern, und mir gelang es fast
täglich, in die Bucht zu entwischen und mit Chad allein zu sein. Dem heißen Mai folgten ein
heißer Juni, ein noch heißerer Juli. Wolkenlose Tage,
die nach Gras und Blüten dufteten, ein saphirblaues Meer zu unseren Füßen, lange Abende, an
denen die untergehende Sonne ein grandioses Feuer am westlichen Horizont entfachte. Der Krieg
war weit weg, ich scherte mich nicht um ihn. Hätte Chad nicht ständig von seinem Wunsch, an die
Front zu ziehen, angefangen, ich glaube, ich hätte fast vergessen, dass es irgendwo
Schlachtfelder gab und Bomben, viel Elend und Tränen. Ich fühlte mich sicher, weil Emma Chad
nicht gehen lassen würde. Ich genoss den schönsten Sommer meines Lebens. Das empfand ich nicht
nur damals so. Bis heute weiß ich, dass es die besten Wochen meines Lebens waren.
Am 29. Juli 1942 wurde ich dreizehn Jahre alt. Der Brief, der mich an jenem Tag von meiner
Mutter erreichte, setzte allem ein Ende -den unbeschwerten Sommerwochen, dem jungen
Liebesglück, der unendlichen Freiheit auf der Beckett-Farm, die längst zu meiner Heimat, zu
meinem Zuhause geworden war.
Mum schrieb, dass die Angriffe auf London stark nachgelassen hätten, und dass es nicht
einzusehen wäre, weshalb ich den Becketts länger auf der Tasche liegen sollte (so drückte sie
es wirklich aus, dabei wurde für meinen Aufenthalt in Yorkshire schließlich Geld bezahlt!). Sie
werde Ende August angereist kommen und mich nach London zurückholen. Überdies würde es Zeit,
dass ich meinen Stiefvater endlich kennen lernte.
Ich stürzte ins Bodenlose. Wenn ich gerade schrieb, der Sommer 1942 sei der schönste meines
Lebens gewesen, so gilt das nur bis zu jenem sonnigen Mittwoch Ende Juli. Von da an war ich
gefangen in tiefster Verzweiflung.
Der folgende August war der schlimmste in meinem Leben.
Am ersten September kam ich wieder in London an. Auf der ganzen Zugfahrt
hatte ich kein
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