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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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einziges Wort mit meiner Mutter gesprochen, und sie war darüber so wütend, dass
    sie ihre Fingernägel abbiss und mich überhaupt nicht mehr anschauen konnte. Es war ein sonniger
    Spätsommertag, aber London erschien mir hässlich, trist und absolut unerträglich. Hier konnte
    man den Krieg sehen und spüren, der oben in Yorkshire so weit weg gewesen war. Kaputte Häuser,
    Schuttberge, ausgebrannte Straßenzüge. Die Menschen hasteten mit gesenkten Köpfen die Gehsteige
    entlang, viele waren ärmlich gekleidet und wirkten hungrig. Vom Bahnhof aus mussten wir zu Fuß
    zu unserer Wohnung laufen - die genau genommen Harold Kanes Wohnung war und von der ich mir
    geschworen hatte, sie für alle Zeit als Zuhause abzulehnen. Statt des Dufts nach Wind, Salz und
    Heu umgaben mich Benzingestank und Staub. Mum trug meinen Koffer, ich schleppte die Tasche, in
    die mir Emma Brot, Fleisch und Käse eingepackt hatte, wahre Berge, denn sie meinte, in London
    werde nun alles knapper, womit sie, wie ich bald merken musste, recht hatte. Mum hatte
    halbherzig angeboten, auch Nobody mitzunehmen und den dafür
    zuständigen Stellen zu übergeben, aber wie vorauszusehen gewesen
    war, hatte Emma entsetzt abgelehnt. Nie hatte ich Nobody so glühend beneidet wie an jenem Tag,
    der für ihn das Verbleiben an einem paradiesischen Ort bedeutete und für mich einen quälenden
    Abschied. Er hatte geweint, als Mum und ich den Hof verließen, und ich hatte noch gesehen, wie
    Emma ihm Bonbons in den Mund steckte, um ihn zu trösten.
    Chad war bei den Schafen gewesen und hatte sich nicht noch einmal blicken lassen, wir hatten es
    am Vorabend vereinbart, und es war mir lieber so. Ich wollte nicht weinen, aber das hätte ich
    getan, hätte er neben seiner Mutter und Nobody gestanden und mir hinterhergewunken. Ich konnte
    das alles nur überstehen, indem ich innerlich kalt wurde vor Wut. Sein Anblick hätte alle meine
    Dämme brechen lassen.
    Angesichts der ziemlich kaputten Stadt richtete ich zum ersten Mal an diesem Tag das Wort an
    meine Mutter. »Hier fliegen keine Bomben mehr? Sieht so aus, als kämen sie noch jede
    Nacht!«
    »Sieh an!«, sagte Mum. »Du hast ja doch einen Mund!« Ich starrte sie böse an.
    »Das sind noch die Zerstörungen von den Angriffen Ende 1940 und dem ersten halben Jahr 1941«,
    erklärte Mum. »Im Moment ist wirklich nicht viel los. Seit Wochen kein nächtlicher
    Alarm.«
    »Aha«, entgegnete ich missmutig. Es war ein ausgesprochen unreifer Gedanke, aber in diesem
    Moment wünschte ich mir für die nächste Nacht Dutzende von deutschen Fliegern, die tonnenweise
    Bomben über London abwerfen sollten, dann würde Mum ihren Fehler einsehen und mich
    angstschlotternd nach Yorkshire zurückschicken.
    Meine Mutter blieb stehen, wischte sich kurz mit der Hand über das schweißnasse Gesicht. Mein
    Koffer war schwer, der Spätnachmittag sehr warm. »Fiona. Wir sind eine Familie. Du, Harold und
    ich. Es ist nicht gut, wenn wir einander völlig fremd werden.«
    »Deinem Harold kann ich ja wohl kaum fremd werden. Schließlich hat er mich noch nie
    gesehen.«
    »Umso schlimmer. Er ist seit einem Jahr dein Vater, und ... «
    »Stiefvater. «
    »Gut, Stiefvater. Es ist wichtig, dass ihr euch aneinander gewöhnt, dass wir alle drei eine Form des
    Zusammenlebens finden.«
    »Und wenn wir keine finden?«
    »Wir werden sie finden. Fiona, sei doch froh, dass du noch eine Familie hast! Es gibt Kinder,
    die haben durch diesen Krieg bereits alles verloren! Denk an den armen Brian Somerville, der
    niemanden auf der Welt mehr hat!«
    »An den denke ich besser nicht«, erwiderte ich wütend, »denn dann platze ich vor Neid. Er
    durfte bleiben. Ich nicht.«
    Jetzt sah Mum richtig verletzt aus, aber ich fand, das hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Den
    Rest des Wegs legten wir wieder schweigend zurück. Gespräche zwischen uns funktionierten an
    diesem Tag einfach nicht.
    Harold Kanes Wohnung befand sich in Stepney, in einem der hässlichsten Häuser, die ich je
    gesehen hatte. Ein tristes, graues Gebäude, von der Straße zurückgesetzt und hinter zwei
    anderen Gebäuden liegend, die um einige Stockwerke höher gebaut waren und verhinderten, dass
    Licht und Sonne zum Hinterhaus vordringen konnten. In der Straße war nur ein einziges Haus
    vollkommen von den Bomben zerstört worden, allerdings hatte die Druckwelle bei etlichen anderen
    Gebäuden offenbar die Fenster zerschlagen, denn überall entdeckte ich verrückte und

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