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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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trotz meiner
    Jugend und Unerfahrenheit entging mir, dort in meiner Kammer lauschend, nicht, dass sich sein
    Tonfall änderte. »Vielleicht sollten wir gleich den nächsten Versuch starten, was meinst du?«
    »Ich muss die Küche aufräumen. Außerdem schläft Fiona noch nicht. Sie kann jeden Moment hier
    wieder aufkreuzen.« »Unsinn. Die ist total übermüdet. Die rührt sich heute nicht
    mehr.«
    »Harold ... lass das ... ich habe wirklich Angst, dass Fiona ... Hör auf!«
    Ein Stuhl fiel um. Ich härte Mum kichern. Entsetzt hielt ich den Atem an. Die beiden würden
    jetzt doch nicht...
    Die Geräusche, die kurz darauf an mein Ohr drangen, waren eindeutig. Meine Mutter und Harold
    Kane trieben es tatsächlich kurz nach dem Abendessen zusammen in der Wohnküche und scherten
    sich einen Dreck darum, dass ich alles, wirklich alles, mitbekommen musste.
    Es war unerträglich. Absolut unerträglich.
    Ich zog mich nicht weiter aus, sondern kroch, so wie ich war, noch in meinem geblümten
    Sommerrock, den mir Emma genäht hatte, und in meinen Kniestrümpfen steckend, in mein Bett,
    dessen Wäsche muffig roch. Ich bohrte mein Gesicht in das Kissen und hielt mir mit beiden
    Händen die Ohren zu, um bloß nichts von dem widerlichen Treiben nebenan mitzubekommen. Den
    ganzen schrecklichen, langen Tag über hatte ich mich beherrscht, jetzt konnte ich nicht
    mehr.
    Ich weinte, und ich glaube, es waren die heißesten, heftigsten Tränen meines ganzen
    Lebens.
    Ich machte es meiner Mutter und Harold wahrlich nicht leicht in den folgenden Wochen und
    Monaten. Meine Wut darüber, dass sie mich gegen meinen Willen nach London gebracht hatte,
    verrauchte nicht, im Gegenteil, sie wurde noch stärker. Der Herbst kam, der Nebel, die frühe
    Dunkelheit. Meine Stimmung sank auf den Nullpunkt.
    Harold ging mir aus dem Weg und ich ihm - soweit das in der winzigen Wohnung möglich war. Aber
    tatsächlich war er praktisch den ganzen Tag über auf der Werft, wo er immerhin eine
    VorarbeitersteIle besetzte, und wenn er nach Hause kam, betrank er sich ziemlich rasch und
    schlief dann auf dem kleinen, wackligen Sofa in der Wohnküche ein. Er schnarchte und stank nach
    Alkohol, und es schüttelte mich jedes Mal, wenn ich an ihm vorbeigehen musste.
    »Er ist ein Säufer, Mum«, sagte ich einmal zu meiner Mutter. »Wie konntest du einen Säufer heiraten?«
    »Alle Männer trinken«, behauptete meine Mutter, was sich aus ihrer Sicht der Dinge und ihrer
    Erfahrung heraus wahr anhören musste.
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein! Arvid Beckett zum Beispiel ... «
    Damit hatte ich natürlich ihren empfindlichsten Nerv getroffen. »Hör endlich mit den Becketts
    auf!«, fuhr sie mich an. »Für dich kommen sie gleich nach dem lieben Gott! Aber es sind ganz
    normale Menschen wie du und ich und Harold!«
    »Sie trinken nicht«, beharrte ich. »Dann haben sie eben andere Laster. Jeder hat ein Laster.
    Glaub mir das!«
    Sie mochte recht haben oder auch nicht, das konnte ich nicht beurteilen. Auf jeden Fall
    bewirkten Harolds Trunksucht und der Anblick seines aufgeschwemmten Gesichts in mir so viel
    Widerwillen, dass ich mein ganzes Leben lang eine tiefe Abneigung gegen Alkohol hegte und ihn
    niemals anrührte. Ich hasste das Zeug. Bis heute kann ich nicht einmal eine Flasche
    Verdauungsschnaps in meiner Wohnung ertragen.
    Ich ging zur Schule, erledigte gewissenhaft alle Aufgaben und verbrachte
    meine freie Zeit damit, endlose Briefe an Chad zu schreiben. Ich schilderte meinen trostlosen
    Alltag, die triste Atmosphäre im zerbombte n London, die düstere
    Wohnung, die Knappheit der Lebensmittel. Harold nahm den meisten
    Raum in meinen Briefen ein. Ich schilderte ihn als wahres Ungeheuer, so dass Chad den Eindruck
    gewinnen musste, meine Mutter habe ein fettes, stupides, ewig betrunkenes Monster geheiratet.
    Ich hoffte auf Trost durch ihn, aber ich erhielt seIten eine Antwort. Er ließ mich wissen, dass
    er nicht so gern Briefe schreibe und dass es viel auf der Farm zu tun gebe, dass er mich aber
    vermisse und oft an mich denke. Ich musste mich damit zufrieden geben. Er war eben ein Mann.
    Die taten sich vielleicht allgemein etwas schwer damit, ihre Gefühle zu Papier zu
    bringen.
    Ende November erhielt ich dann einen Brief von ihm, in dem er, wie gewohnt, darüber jammerte,
    auf einer Schaffarm festzusitzen, statt für England in den Krieg ziehen zu dürfen. »Das
    Kriegsglück der Deutschen wendet sich«, schrieb er, »sie sind zu schlagen, und ich möchte

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