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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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scheußliche
    Konstruktionen aus Plastikplanen und Holzbrettern. Die Straße war sehr schmal und dunkel,
    selbst an diesem sonnigen Tag. Im Winter musste sie einfach nur trostlos sein. Ich war
    inzwischen an die Weite und Freiheit des ländlichen Yorkshire gewöhnt. Ich hätte heulen
    können.
    Harold Kane war schon daheim. Ich hatte gehofft, er sei noch bei der Arbeit
    und würde mir damit einen kleinen Vorsprung geben, die Wohnung kennen zu lernen und mich
    halbwegs zu akklimatisieren. Stattde ssen öffnete er uns die Tür
    im vierten Stock, nachdem wir mit Koffer und Tasche die steilen,
    dunklen Stiegen hinaufgekeucht waren. Er war groß und schwer und hatte eine ungesunde rote
    Gesichtsfarbe, von der ich damals noch nicht wusste, dass sie ihn als Trinker auswies. Ich fand
    ihn hässlich und unangenehm. Ich hasste ihn auf den ersten Blick.
    »Du bist also Fiona«, sagte er und gab mir die Hand. »Willkommen in London, Fiona! «
    Er bemühte sich, freundlich zu sein, aber ich traute ihm nicht. Mein Gespür sagte mir, dass die
    Idee, mich hierher zuholen, keineswegs auf seinem Mist gewachsen war, sondern auf dem meiner
    Mutter. Was sollte er mit diesem dreizehnjährigen Mädchen anfangen, das so plötzlich in die
    traute Zweisamkeit hereinschneite? Sie hatten sich eingerichtet in ihrem neuen Leben, er und
    Mum, seit einem Jahr. Aus seiner Sicht konnte ich nur ein Störenfried sein.
    Die Wohnung war sehr klein und ziemlich ärmlich eingerichtet. Selbst wir, die wir nie viel Geld
    gehabt hatten, hatten in unserer alten Wohnung schöner gelebt. Es gab zwei Zimmer und eine
    kleine Kammer, und alle gingen nach hinten hinaus, wo schon das nächste Haus stand, so dicht,
    dass es fast den Anschein hatte, man könnte die Hand aus dem Fenster strecken und seine Mauern
    berühren. Von der Abendsonne, die draußen noch schien, war hier überhaupt nichts zu bemerken,
    es hätte genauso gut ein trüber Novembertag sein können statt des sonnigen ersten
    September.
    Das erste Zimmer wurde als Wohnküche genutzt, das zweite war das Schlafzimmer von Mum und
    Harold. Die kleine Kammer - ich hatte es geahnt - war für mich reserviert. Es passten ein Bett
    und ein schmaler Kleiderschrank hinein, und damit war sie auch schon komplett ausgefüllt. Ich
    konnte mich kaum noch einmal um mich selbst drehen.
    »Und wo soll ich Schulaufgaben machen?«, fragte ich wütend.
    »Am Küchentisch«, antwortete meine Mutter und bemühte sich, unbekümmerte Fröhlichkeit
    auszustrahlen, was absolut aufgesetzt wirkte. »Da hast du Platz, und niemand stört
    dich!«
    Ich musste jetzt wirklich an mich halten, um nicht in Tränen auszubrechen. Es war alles noch
    viel schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte. Nicht dass ich furchtbar verwöhnt gewesen
    wäre. Auch auf der Beckett-Farm waren die Räume klein und dunkel, das Haus sehr
    heruntergewohnt, und mein Zimmer dort war, wenn ich ehrlich sein wollte, nur unwesentlich
    größer gewesen als die kleine Kammer hier. Aber an schönen Tagen war die Sonne durch alle
    Fenster hereingeflutet, und man hatte über schier endlose Wiesen geblickt, die am Horizont mit
    dem Himmel verschmolzen. Aus einem der oberen Räume hatte man über eine Senke des Hügels hinweg
    das Meer sehen können. Ich hatte dort das Gefühl einer fast grenzenlosen Freiheit verspürt.
    Hier hingegen fühlte ich mich wie lebendig begraben, eingesperrt hinter
    Gefängnismauern.
    »Ich bin den ganzen Tag in der Werft«, sagte Harold, und vermutlich war das ein Versuch von
    ihm, mich zu trösten, »und deine Mum ist auch nicht daheim, weil sie leider immer noch putzen
    geht, obwohl sie das nicht müsste. Die ganze Wohnung ist dein Reich.« »Wir können mein Geld
    ganz gut gebrauchen«, sagte Mum. »Wir kämen auch ohne das über die Runden«, entgegnete Harold.
    Ich hatte das Gefühl, einem schon recht alten Streit beizuwohnen. Offenbar waren Mums
    Putzstellen ein heißes Eisen. »Es würde da und dort doch eng werden«, meinte sie.
    Ich begann mich wirklich zu fragen, weshalb sie diesen Mr. Kane geheiratet
    hatte. Er sah nich t gut aus, und er hatte offen bar auch kaum Geld. Wo, zum Teufel, lag sein Reiz für meine Mutter? Ich fand, dass sie
    eine recht attraktive Frau war, sie hätte sich etwas Besseres als diesen verquollenen Fettsack
    an Land ziehen können. Mein verstorbener Vater mochte ein Säufer gewesen sein und völlig
    unzuverlässig obendrein, aber er war ein sehr gutaussehender Mann gewesen. Ich erinnere mich,
    als Kind oft

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