Das andere Kind
Haus
zusammen!«
Er blieb verdutzt stehen. »D-du glaubst doch nicht...?«
Ich wartete nicht ab, bis er die Frage formuliert hatte. Blitzschnell drehte ich mich um,
schoss durch die kleine Diele und in mein Zimmer, knallte die Tür hinter mir zu, lehnte mich
von innen dagegen. Es gab keinen Schlüssel, was ich schon oft bedauert hatte, aber noch nie so
sehr wie in jener Nacht. Ich fühlte mich völlig ungeschützt und verletzbar. Harold konnte mir
jederzeit folgen, ich hätte mich nicht gegen ihn wehren können. Das Einzige, was ich tun
konnte, war, unter allen Umständen wach zu bleiben und ihm einen Überfall auf mich so schwer
wie möglich zu machen. Sollte er es wagen, mein Territorium zu betreten, würde ich kämpfen und
schreien. Im Schlaf würde er mich jedenfalls nicht überraschen.
So hielt ich Wache, die ganze Nacht, bis zum Morgen. Ich saß auf dem Fußboden, mit dem Rücken
an die Tür gelehnt, und starrte in die Dunkelheit. Ich war todmüde und zugleich hellwach, mein
Herz raste, die Gedanken jagten sich in meinem Kopf. Ich konnte nicht hier bleiben, so viel
stand für mich fest. Harold hatte gesagt, Mum sei operiert worden, das bedeutete, sie würde
einige Zeit im Krankenhaus bleiben müssen. Zehn Tage mindestens, vielleicht sogar zwei Wochen.
Keinesfalls würde ich die ganze Zeit allein mit ihrem versoffenen Ehemann in dieser Wohnung
verbringen. Ich konnte ihn nicht ertragen. Ich hatte Angst vor ihm.
Es gab einen einzigen Ort auf der Welt, an dem ich mich sicher fühlte. Ich konnte nur
hoffen, dass mein gespartes Taschengeld für eine Zugfahrkarte bis Scarborough reichte. War ich
erst dort, würde man weitersehen. Ich ging nicht davon aus, dass meine Mutter und Harold meine
Flucht so einfach akzeptieren würden, aber zumindest Mum war fürs Erste außer Gefecht gesetzt,
und Harold hatte mir nichts zu sagen. Und die Hauptsache war, dass ich mich zunächst in
Sicherheit befand.
Das war das Wichtigste.
So saß ich und wartete und grübelte, bis der Morgen dämmerte. Von Harold war nichts mehr zu
hören, er versuchte auch nicht, mir in mein Zimmer zu folgen. Irgendwann musste ich für einen
kurzen Moment eingenickt sein, denn ich schreckte hoch, als ich die Wohnungstür zuschlagen
hörte, das erste Geräusch seit Stunden. Gleich darauf Schritte, die sich die Treppe
hinunterbewegten. Gott sei Dank, Harold ging wie jeden Tag zur Arbeit.
Steif erhob ich mich. Meine Augen brannten vor Erschöpfung. Trotzdem war ich entschlossen, mir
auch nicht eine halbe Stunde Schlaf zu gönnen. Ich würde mich waschen, mich umziehen, das
Nötigste zusammenpacken. Und mich dann sofort auf den Weg zum Bahnhof machen.
Die nächste Nacht würde ich auf der Beckett-Farm verbringen.
Ich war, so schien es mir, fast endlos lange unterwegs. Mein Geld hatte für
die Fahrkarte gereicht, und am Nachmittag langte ich schon in Scarborough an. Bis ich jedoch
herausgefunden hatte, welchen Bus ich von dort nehmen musste, und mich dann beinahe um den
Verstand gewartet hatte, ehe das Gefährt endlich eintraf, schien eine halbe Ewigkeit zu
vergehen. Der Bus hätte laut Fahrplan viel früher kommen sollen, aber als ich mich bei dem
Fahrer deswegen beschwerte, zuckte dieser nur mit den Schultern. »Wir sind im Krieg, junge
Frau«, sagte er, und die Tatsache, dass er mich iunge Frau nannte, hob meine Stimmung gewaltig. »Die meisten Fahrer sind an der Front.
Wir Aushilfskräfte können uns nicht zerreiße«
Bald erreichten wir Staintondale. Ich presste die Nase an die Fensterscheibe, trank im letzten
Licht des Tages förmlich die Bilder der mir so vertrauten, von mir so geliebten Landschaft.
Obwohl der Februartag kalt und grau war, sich Felder und Himmel am Horizont in nebligem
Winterdunst verloren und alle Bäume noch kahl waren, hätte ich jedes Stück Feld, jede Wiese,
jeden Acker, jedes Steinmäuerchen und jeden schiefen Weidezaun umarmen und an mein Herz drücken
können. Ich wusste, wie es sein würde, wenn in wenigen Wochen die Narzissen überall aus dem
Boden schossen, wenn der Märzhimmel hoch und überirdisch blau war, wenn ganz langsam die Bäume
auszutreiben begannen.
Lieber Gott, lass mich dann noch hier sein, betete ich lautlos, bitte, lass
mich bleiben dürfen! Es war ein gutes Stück Weg von der Straße, an der der Fahrer mich hatte
aussteigen lassen , bis zur Farm, und obwohl ich nicht viel eingepackt hatte, wog
die Tasche schwer. Aber nun war mein Ziel zum Greifen nahe, und
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