Das andere Kind
ich auch noch
meine Mutter verlieren. Sie hatte entsetzlich ausgesehen, und sie hatte so viel Blut verloren.
Was sollte werden, wenn sie nicht zurückkehrte? Warum hatte ich ihr Verbot nicht ignoriert und
viel früher einen Arzt geholt? Ich haderte mit mir und weinte und stellte zum ersten Mal in
meinem Leben fest, dass Warten die schlimmste Qual bedeuten kann.
Es war nach Mitternacht, als ich Harolds Schritte draußen auf der Treppe hörte. Schwerfällig,
langsam. Er schien sich am Geländer heraufzuziehen. Ich schoss zur Tür. Er stand vor mir,
starrte mich aus blutunterlaufenen Augen an und stank nach Schnaps. Auf dem Rückweg vom
Krankenhaus musste er in etlichen Kneipen Halt gemacht haben.
»Fiona«, sagte er mit schleppender Stimme.
»Was ist mit ihr? Harold, was ist mit meiner Mutter?«
Er torkelte in die Wohnung, direkt auf die Anrichte in der Küche zu, aus der er sich die
Schnapsflasche hervorzog. Ich hätte ihn schlagen mögen.
»Harold! Bitte! Was ist mit Mum?«
»Sie schafft es. Sie haben sie op-operiert.«
Ich schloss die Augen. Schwindel überfiel mich, ein Schwindel der Erleichterung. Mum war nicht
tot. Mum würde zu mir zurückkommen.
»Das Kind«, flüsterte Harold. Seine Zunge stolperte. Er nahm einen tiefen Schluck aus der
Flasche, drehte sich zu mir um. »Es w-war w-wirklich ein J-junge. Mein Sohn ... ist
t-ot.«
Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass mich diese Information nicht besonders berührte. Ich
hatte mit Harold Kanes Sohn nichts zu tun, Halbbruder hin oder her. Ich konnte nicht aufhören
zu denken: Mum lebt, Mum lebt, Mum lebt!
Mir waren Zentnersteine vom Herzen gefallen.
Harold aber befand sich inmitten einer fürchterlichen Krise. Er war vollkommen verzweifelt. Er
trank immer mehr Schnaps, jammerte und beklagte mit immer undeutlicherer Stimme das ungeborene
Kind. Das Kind, auf das sie so gewartet hatten. Das Kind, das ihm alles bedeutete. Das Kind,
das sein Leben hätte verändern sollen.
Schließlich reichte es mir, und ich sagte etwas patzig: »Mein Gott, Harold, dann bekommt sie
eben wieder ein Kind. Wird schon klappen!«
Er ließ die Flasche sinken, die er soeben wieder hatte zum Mund führen wollen. »Nie ...
wieder«, sagte er, »nie wieder. D-der Arzt sagt, es g-geht nie w-wieder.« »Das tut mir leid«,
sagte ich unbeholfen. Was hätte ich sonst sagen sollen? Harold starrte mich an, und dann, zu
meinem Schrecken, brach er in Tränen aus. »0 Gott«, jammerte er, »0 Gott!«
Er schwankte auf mich zu. »F-fiona, F-fiona, halt mich ... halt mich fest ... « Sofort wich ich
zurück, bis sich die Kante eines Schranks gegen meinen Rücken drückte.
»Harold! «, sagte ich abwehrend.
Er war dicht vor mir. Er stank so entsetzlich nach Alkohol, dass mir fast übel wurde. Überdies
flößte er mir Angst ein. Was wollte er? Wir hatten einander nie in die Arme genommen, auch wenn
Mum das gern gesehen hätte. Ich wollte das nicht, und er hatte es respektiert. Jetzt aber, hier
in unserer Wohnküche, mitten in der Nacht, unter größtem emotionalen Stress stehend, betrunken
und verzweifelt, schienen seine Sicherungen durchzubrennen.
»Keinen Schritt näher«, warnte ich mit heiserer Stimme.
»Fiona«, jammerte er wieder und griff nach mir.
Ich duckte mich unter seiner Hand weg und stand jetzt in der Tür. Ich war
flinker und behänder als er, zudem nüchtern. Aber natürlich war er viel stärker, und wenn es
hart auf hart kam, hatte ich keine Chance. Keine Chance - wenn was genau passierte?
Ich bin später zu der Überzeugung gekommen, dass Harold Kane keinen sexuellen Übergriff auf
mich vorhatte. Weder vor jener Nacht noch jemals danach gab es einen Hinweis darauf, dass er es
auf mich abgesehen hätte. Im Gegenteil, mir wurde irgendwann klar, dass er gänzlich fixiert war
auf meine Mutter. Andere Frauen schien er nie überhaupt nur wahrzunehmen.
Er hatte wohl wirklich nur Trost gesucht. Er war vollkommen verzweifelt.
Eine Welt war für ihn eingestürzt. Egal, ob Mann oder Frau, er hätte si ch jedem in die Arme geworfen, um Halt zu finden, ein
bisschen Geborgenheit. Aber ich war sehr jung. Sehr empfindlich. Stand ihm ohnehin voller
Abneigung und Misstrauen gegenüber. Ich war fix und fertig nach dem schrecklichen Nachmittag
mit meiner stöhnenden, wimmernden Mutter. Meine Nerven müssen sich in einem miserablen Zustand
befunden haben.
»Ich schreie«, warnte ich ihn, »wenn du einen Schritt näher kommst, schreie ich das ganze
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