Das andere Kind
Chad hatte mir einmal erzählt, die Leitung sei erst im Jahr 1936
gelegt worden. Waschen, kochen, bügeln, all die Dinge, die Emma täglich hatte erledigen müssen,
hatten eine Unmenge an Zeit und Kraft gekostet. Sie hatte von morgens bis abends geschuftet,
ohne sich je zu beschweren und ohne von uns Kindern allzu viel Hilfe und Einsatz zu erwarten.
Es war ihr wichtiger gewesen, dass wir unsere Schulaufgaben ordentlich erledigten und auch noch
Zeit zum Spielen fanden. Leise und schleichend hatte sie sich dabei selbst
aufgebraucht.
»Arvid«, hatte ich irgendwann gesagt, nachdem ich meine dritte Tasse Tee getrunken hatte,
»Arvid, kann ich bitte hier bleiben? Ich möchte nicht nach London zurück.«
Er wiegte sich hin und her, unschlüssig, was er mir antworten sollte. »Das geht doch nicht«,
sagte er schließlich.
»Es muss gehen. Ich bin sterbensunglücklich dort. Ich komme mit meinem ... meinem Stiefvater
überhaupt nicht zurecht. Er trinkt, er ist widerlich.«
»Wie alt bist du?«
»Fast vierzehn«, sagte ich. Es war zwar noch eine ganze Weile hin bis Ende Juli, aber so genau
musste man es ja nicht nehmen.
»Dreizehn also. Du bist ein Schulmädchen!«
»Ich könnte hier den Haushalt führen. Kochen, putzen, Wäsche waschen ... ich kann das
alles!«
»Du musst zur Schule gehen. Außerdem würden deine EItern nie zustimmen.
Wenn ich ein Telefon hätte, müsste ich sie jetzt sowieso anrufen. Ich kann in Teufels Küche kommen ... hier allein mit einem so
jungen Ding wie dir! Nein, Fiona, tut mir leid. Ich stehe mit einem Bein im Gefängnis, wenn ich
dich hier einfach aufnehme!«
»Und wenn es meine Mutter erlaubt?«
»Wird sie nicht«, prophezeite Arvid. »Meine Farm war für deine Mutter in Ordnung, als London im
Bombenhagel versank, und als wir hier noch als Familie lebten. Jetzt hat sich alles verändert.
Sie wird dich mit fliegenden Fahnen zurückholen.«
Leider schwante mir, während ich in meinem Bett lag und die Neuigkeiten der letzten Stunden zu
verarbeiten versuchte, dass er recht hatte. Mum hatte mich schon nicht hier haben wollen, als
Emma noch lebte. Dass sie mich hier allein mit Arvid und Nobody wohnen ließ, war mehr als
unwahrscheinlich.
Am nächsten Morgen hing Schneegeriesel in der Luft, dennoch streifte ich
den halben Tag über das Farmgelände, stets gefolgt von Nobody, der mit verklärtem Blick an mir
hing, begrüßte vertraute Orte und weinte
stille Tränen, weil zugleich der Abschied von ihnen schon wieder über mir schwebte. Ich
kletterte in die Bucht hinunter, saß dort lange auf einem Felsen, blickte über das Meer, das so
trostlos grau war an diesem Tag, und dachte an Chad und unseren letzten Sommerabend an diesem
Ort. Die Schreie der Möwen klangen schrill und verzweifelt in meinen Ohren und schienen das
Echo meiner düsteren Gedanken zu sein. Wo war Chad? Schwebte er in Gefahr, gerade jetzt, da ich
hier an unserem Platz an ihn dachte? Würde er den Krieg überleben? Würde ich ihn jemals
wiedersehen?
Ich ließ meinen Tränen freien Lauf. Nobody, der neben mir kauerte, störte
weder mein W einen noch meine Gedanken. Wie üblich genügte es ihm völlig, in meiner Nähe zu sein. Irgendwann kam ich auf die Idee,
nach ihm zu sehen, und dabei stellte ich fest, dass er vor Kälte am ganzen Körper zitterte und
fast lilafarbene Lippen hatte. Ich selbst sah wahrscheinlich nicht viel anders aus. Ich hatte
gar nicht bemerkt, wie ich langsam zum Eiszapfen erstarrt war. Inzwischen herrschte dichtes
Schneetreiben, man hatte sogar Schwierigkeiten, das Meer noch zu sehen. Ich stand
auf.
»Komm, lass uns schnell nach Hause gehen«, sagte ich, »wir holen uns hier noch den Tod!« Er
folgte mir sofort. Er wäre hinter mir her ins Meer gelaufen, wenn ich das von ihm verlangt
hätte.
Daheim machte ich Feuer in den Kaminen, kochte heißen Tee, räumte die Küche auf, suchte aus der
Speisekammer die kärglichen Vorräte zusammen, um daraus ein Abendessen zuzubereiten. Arvid
sollte merken, dass ich über mehr Fähigkeiten verfügte als irgendein anderes dreizehnjähriges
Schulmädchen und dass es Vorteile für ihn haben konnte, wenn ein weibliches Wesen auf der Farm
einzog. Während ich die Böden kehrte und die Arbeitsplatte schrubbte, saß Nobody am
Küchentisch, trank Tee, aß ein paar ziemlich trockene Kekse, die ich gefunden hatte, und sah
mir aus leuchtenden Augen zu. Ich konnte nicht umhin, mir auch über sein Schicksal Gedanken zu
machen. Er musste
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