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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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dieses Wissen verlieh mir neue
    Kräfte. Ich hatte seit sechsunddreißig Stunden nicht geschlafen, trotzdem war ich hellwach.
    Gleich würde ich Chad wiedersehen. Emma würde mich in die Arme nehmen.
    Gleich war ich daheim.
    Die Farm lag in tiefer Dunkelheit, was mich etwas überraschte. Der Abend
    war jetzt hereingebrochen, nur der westliche Horizont war noch von einem helleren Grau, das die kahlen Bäume davor wie bizarre Scherenschnitte aussehen ließ.
    Der Wind frischte auf, wehte kalt und salzig vom Meer ins Land. Mir war warm von der Anstrengung. Ich stand am Tor und betrachtete das Haus. Emma pflegte stets viele Lichter anzuzünden, weil sie wollte, dass
    ihr Heim Wärme und Leben ausstrahlte, und ich war häufig Zeugin der Auseinandersetzungen
    geworden, die sie deswegen mit Arvid geführt hatte. Er empfand diese Vorliebe natürlich
    als verschwenderisch. Trotzdem hatte sie
    sich in diesem Punkt immer durchgesetzt, obwohl sie sich sonst ihrem Mann gegenüber eher
    unterwürfig verhielt.
    Womöglich war niemand daheim. Doch wohin sollten sie alle gehen, an einem kalten Abend mitten
    in der Woche?
    Langsam näherte ich mich dem Haus, blieb kurz vor der Tür stehen, drückte dann zögernd auf die Klinke. Die
    Tür ging auf. Eine Katze, die direkt dahinter im Flur gesessen hatte, schoss an mir vorbei und verschwand in der Dunkelheit.
    Es roch nicht gut im Haus, das fiel mir sofort auf. Ungelüftet, nach altem
    Essen, nach Staub. Emmas Haus war, bei aller Ärmlichkeit, immer sauber und frisch gewesen,
    hatte nach Blumen oder Kerzen oder Kaminfeuer geduftet. Ein Haus, das jeden Besucher mit
    offenen Armen zu empfangen schien. Jetzt aber ... Konnte sich die Farm in dem ha lben Jahr, das seit meiner Ab reise vergangen
    war, so sehr verändert haben? Oder hatte ich mich verändert? Nahm ich Dinge anders wahr? War
    ich übermüdet, ausgebrannt?
    »Hallo?«, rief ich zaghaft. Sie ließen die Tür nie unverschlossen, wenn keiner daheim war. Ich
    ging den Flur entlang, spähte in das Wohnzimmer. Dunkelheit. Kälte. Kein Feuer im Kamin, keine
    Kerzen am Fenster. Ich lief weiter. »Hallo?«, rief ich erneut. »Ist niemand zu
    Hause?«
    Als ich die Küche erreichte, bemerkte ich einen schwachen Lichtschein im unteren Türspalt. Ich
    atmete auf. Es war doch jemand da. Dennoch wollte die Beklommenheit nicht weichen.
    Irgendetwas stimmte nicht.
    Ich öffnete die Küchentür.
    Das Deckenlicht war ausgeschaltet, nur die kleine Lampe über der Spüle brannte. Sie vermochte
    den Raum kaum zu erhellen. Es war ziemlich kalt, obwohl ein kleines Feuer im Herd zu brennen
    schien. Am Küchentisch saß Arvid, groß, dunkel, schweigend. Vor ihm standen ein Becher und eine
    Kanne. Es roch schwach nach dem Lindenblütentee, den sich Emma abends vor dem Einschlafen immer
    zu kochen pflegte.
    »Arvid!« Ich trat ein, fürchtete, er werde erschrecken, aber er zuckte nicht einmal zusammen.
    Er hatte mich wohl kommen und rufen hören, hatte jedoch nicht reagiert. »Arvid, ich bin es.
    Fiona.«
    Er hob die Augen. Ich kannte ihn als wortkarg, aber in diesem Moment erschien er mir nicht
    einfach schweigsam und missgelaunt wie zumeist. Er wirkte ... erstarrt.
    »Arvid, wo ist Emma? Wo ist Chad?« Er sah mich nur an. Kalt und schwer kroch die Angst in mir
    hoch. »Wo sind sie?«, wiederholte ich drängend. In diesem Augenblick vernahm ich Schritte auf
    der Treppe.
    Jemand rannte den Flur entlang. Ich drehte mich um, und Nobody schoss in meine Arme. Er
    strahlte über das ganze Gesicht und stieß unzusammenhängende Laute aus. Das einzige Wort, das
    sich aus seinem Kauderwelsch herauskristallisierte, war: »Fiona! Fiona!« Dabei streichelte er
    mein Gesicht und sabberte vor Glück.
    Ich hatte nach wie vor wenig für ihn übrig, aber für den Moment war ich so erleichtert, außer
    dem stummen Arvid überhaupt noch jemanden anzutreffen, dass ich den kleinen Jungen fest an mich
    drückte.
    »Brian! Du bist aber ganz schön gewachsen über den Winter!«
    Er gluckste und lachte. Nach wie vor schien seine geistige Entwicklung mit der körperlichen
    nicht im Mindesten Schritt zu halten.
    Ich wandte mich wieder Arvid zu.
    »Arvid! Wo ist Chad? Bitte!«
    Irgendetwas in seinem Gesicht veränderte sich. Seine blick-losen Augen schienen mich endlich
    wahrzunehmen. Er bewegte die Lippen, brauchte jedoch zwei Anläufe, ehe er sich zu artikulieren
    vermochte, und für ein paar Sekunden ähnelte er dadurch auf verstörende Weise dem lallenden
    Nobody.
    »Chad hat sich

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