Das andere Kind
am letzten Freitag zum Kriegseinsatz gemeldet.«
Ich schluckte trocken. »Was?«
»Konnte ihn nicht halten«, sagte Arvid. »Wollte auch nicht. Er ist ein Mann. Er muss selbst
wissen, was er tut.« »Aber ... was ... was sagt denn Emma dazu?« Sie konnte es nicht zugelassen
haben. Sie hätte es nie erlaubt. Vor nichts hatte sie stets solche Angst gehabt, wie ... Wieder
Schweigen. Selbst Nobody hielt in seinem Gebrabbel inne. Das Schweigen verdichtete sich um mich
herum, und in ihm dröhnte die Wahrheit, dröhnte so laut und so deutlich, dass ich sie voller
Entsetzen erkannte und begriff, noch ehe Arvid schließlich erneut zu sprechen
vermochte.
»Emma ist vor zwei Wochen gestorben«, sagte er.
Ich war einen Weg gegangen, der ins Nichts geführt hatte. So empfand ich es in jener Nacht, als
ich in meinem alten Zimmer auf der Beckett-Farm im Bett lag, immer noch schlaflos, obwohl ich
inzwischen vollkommen übermüdet war. Ich lauschte auf die vertrauten Geräusche im Haus, auf das
Knacken der Dielenbretter, das leise Klirren der Scheiben, wenn der Wind an den Fenstern
rüttelte, und auf das Seufzen der Bäume draußen, wenn er durch ihre kahlen Zweige strich. Von
nichts hatte ich so intensiv und so sehnsüchtig geträumt während der vergangenen Monate wie von
dem Moment, da ich wieder in diesem Haus, in diesem Zimmer sein durfte. Nur hatte ich es mir
natürlich anders vorgestellt, Emma sollte da sein und mich in ihre Arme schließen, und Chad
natürlich, mit Chad wollte ich hinunter in unsere Bucht klettern, atemlos, mit klopfendem
Herzen, wollte mich seinen Worten, seiner Stimme, seinen zärtlichen Händen hingeben ...
Stattdessen ...
Emma tot! Ich konnte es kaum fassen. Chad an der Front, das war zumindest logisch, es war immer
klar gewesen, dass dies das Erste wäre, was er tun würde, sollte sich der Widerstand seiner
Mutter je auflösen, auf welche Weise auch immer. Chad hatte die Gelegenheit offenbar sofort
ergriffen. Ohne mich mit einem einzigen Wort davon zu verständigen! Weder hatte er mir
mitgeteilt, dass er an die Front ging, noch dass seine Mutter gestorben war. Welche Rolle
spielte ich in seinem Leben? Augenscheinlich kreisten seine Gedanken nicht halb so intensiv um
mich wie meine um ihn. Ich fühlte mich verletzt, traurig. Und ratlos.
Ich hatte noch eine Weile mit Arvid in der Küche gesessen, mich eigentlich zum ersten Mal, seit
ich ihn kannte, mit ihm unterhalten. Er war plötzlich ein sehr einsamer Mann, den Anforderungen
der großen Farm mit den vielen Schafen schon lange nicht mehr gewachsen, und noch weniger
jetzt, da die Unterstützung seines Sohnes fehlte. Die Beckett-Farm würde immer mehr
verwahrlosen. Man konnte das schon jetzt am Haus bemerken. Emma hatte über seine Schäbigkeit
immer noch halbwegs hinwegzutäuschen vermocht. Arvid fehlte es dazu an Zeit, Kraft und
vermutlich auch den entsprechenden Fähigkeiten.
Er berichtete, dass sie den ganzen Winter über mit einer schweren Bronchitis gekämpft hatte,
dass diese im Januar erneut in eine Lungenentzündung übergegangen war.
»Sie hat sich wieder geweigert, in ein Krankenhaus zu gehen. Ich habe mir Sorgen gemacht ...
ihr Fieber war so hoch, tagelang, aber ich mochte sie nicht gegen ihren Willen von hier
fortbringen. Schließlich ging es dann ganz schnell. Sie hatte wohl keine Widerstandskraft
mehr.«
Ich musste an die Emma denken, der ich an jenem dunklen Novemberabend auf einer Wiese unweit
von Staintondale zum ersten Mal begegnet war. Eine gesunde Frau, körperlich zart zwar, jedoch
nicht zerbrechlich. Ihr Verfall hatte irgendwann so plötzlich eingesetzt, ohne dass ein
Auslöser dafür erkennbar gewesen wäre. Die ewigen Erkältungen. Der andauernde Husten. Die
schwere Lungenentzündung ein Jahr zuvor, die sie schon so mühsam nur überstanden hatte. Und von
der sie sich nie wirklich erholt hatte.
Ich hatte in der Küche gesessen, fröstelnd, da der Herd nicht genug Wärme
abgab, und zum ersten Mal war mir der Gedanke gekommen, dass die Beckett-Farm, für mich das
Paradies auf Erden, für Emma ei n Ort der Mühsal und
Plackerei gewesen sein mochte. Das zugige, feuchte Haus. Die Öfen,
die jeden Morgen angeheizt werden mussten. Das Wasser in der Küche schöpfte man über eine
Pumpe, deren Bedienung eine Menge körperlicher Kraft erforderte. Auf der Farm war die Zeit
stehen geblieben, alles war noch wie vor hundert Jahren, außer dass es Strom und damit
elektrisches Licht gab, aber
Weitere Kostenlose Bücher