Das andere Kind
ob
ihm Zusammenhänge dämmerten.
Welche? Welche? Welche? Wenn Jennifer Brankley Amy Mills gekannt hatte, welchen Grund mochte es für sie gegeben
haben, das junge Mädchen grausam umzubringen?
Ihr Handy klingelte, als sie zu ihrem Auto zurückging. Gleichzeitig sah sie Gwen Beckett, die
aus einem Taxi vor dem Hoftor ausstieg. Sie sah verfroren aus und übernächtigt.
Wo kommt die denn nun wieder her?, fragte Valerie sich und wusste zugleich, dass ihr niemand
eine Antwort geben musste. Und es vermutlich auch nicht tun würde.
»Ja?«, sagte sie in ihr Handy, während sie gleichzeitig ihr Auto aufschloss. Nur schnell weg
aus dieser feuchten Kälte.
Es war Sergeant Reek. Er klang aufgeregt.
»Inspector, es hat sich eine veränderte Situation ergeben. Mrs. Willerton hat angerufen. Sie
wissen schon, die Wirtin von Dave Tanner. Sie hat eine Nachbarin aufgetrieben, die gesehen
haben will, dass Mr. Tanner in der Nacht, in der Fiona Barnes ermordet wurde, am späteren Abend
das Haus von Mrs. Willerton verlassen hat. Und zwar gegen neun Uhr.«
»Gegen neun Uhr? Dann hat er dort fast auf dem Absatz kehrtgemacht.«
»Sieht so aus. Natürlich weiß man nicht, wie glaubwürdig die Zeugin ist, aber ich denke, man
sollte mit ihr reden.«
»Unbedingt. Haben Sie die Adresse?«
»Ja. Sie wohnt schräg gegenüber von der Willerton.« Valerie biss sich auf die Lippen. Was
Tanners Zeitangaben anging, hatte sie keine Nachbarschaftsbefragung angeordnet. Das mochte sich
jetzt als Fehler herausstellen.
»Fahren Sie dorthin, Reek. Ich komme auch. Und prüfen Sie, ob Tanner daheim ist. Wenn ja,
halten Sie ihn fest.«
»Alles klar, Inspector.«
Sie sank hinter das Steuer, frustriert statt elektrisiert. Sie war nicht gut! Sie verhedderte sich, sie
ging ungeordnet vor, sie ließ Routinen außer Acht. Eine simple Nachbarschaftsbefragung, weshalb
war die ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen? Fast hoffte sie, dass sich die Zeugin als
unglaubwürdig und wichtigtuerisch erweisen würde, dann konnte sie ihr Versäumnis eher unter den
Teppich kehren, als wenn die Aussage der Frau den Durchbruch brachte. Dann würden Fragen
gestellt, und sie würde kaum eine überzeugende Antwort darauf haben.
Sie zwang sich zur Ruhe. Sie durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Hinfahren. Mit der Zeugin
reden. Tanner befragen.
Verflucht noch mal, Valerie, geh konzentriert vor. Mach dich nicht verrückt. Alles wird
gut.
Sie blickte zur Haustür hinüber. Gwen und Colin standen dort, redeten miteinander. Gwen sah
sehr blass aus, fast grau im Gesicht. Ehe Valerie die Tür schloss, hörte sie, wie Colin fast
entgeistert fragte: »Tanner weiß also auch von der Geschichte? Wirklich?«
»Nicht so laut!«, fauchte Gwen.
Valerie schloss die Tür, ließ den Motor an, wendete ihr Auto, wobei die Reifen laut
quietschten, und fuhr vom Hof.
Die Zeugin hieß Marga Krusinski, war Ende zwanzig, hatte ein Baby auf dem Arm und redete in
gebrochenem Englisch auf Sergeant Reek ein, der vergeblich versuchte, ihren Redefluss zu
stoppen und auf sein eigentliches Anliegen zu kommen. Marga Krusinski hatte sich von ihrem Mann
scheiden lassen und war nach Scarborough gezogen, aber offensichtlich verfolgte er sie, lauerte
ihr überall auf, bedrängte sie und hatte mehrfach gedroht, das gemeinsame Kind in seine Gewalt
zu bringen. Inzwischen hatte sie eine einstweilige Verfügung gegen ihn erwirkt, die es ihm
untersagte, näher als auf hundert Meter an sie heranzukommen, aber sie bezweifelte, dass er
sich daran halten würde. Offensichtlich wünschte sie sich Sergeant Reeks Unterstützung und
schien kaum mehr daran zu denken, aus welchem Grund eigentlich die Polizei bei ihr aufgekreuzt
war.
Valerie, die wegen des Nebels länger gebraucht hatte als üblich und erst mit einiger Verspätung
die Szene betreten und sich vorgestellt hatte, fragte sich kurz, ob es tatsächlich ein
Glaubwürdigkeitsproblem mit der Zeugin gab. Erfand Marga Krusinski wilde Geschichten, um die
Polizei auf sich und ihre Notlage verstärkt aufmerksam zu machen?
Sei unvoreingenommen, ermahnte sie sich.
Auf einem Sessel in Mrs. Krusinskis recht spärlich eingerichtetem Wohnzimmer saß Mrs.
Willerton, ein Schnapsglas in der Hand, und ihrer geröteten Nase nach zu schließen, war es
nicht der erste Schluck, den sie auf den Schrecken hin zu sich nahm.
»Verhaften Sie ihn jetzt?«, fra gte sie atemlos,
als sie Vale rie sah. »Verhaften Sie ihn endlich, ehe er noch
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