Das andere Kind
Grund. Jedenfalls bin ich heute Vormittag zu Mrs.
Krusinski hinübergegangen und habe sie gefragt, ob ich die nächste Nacht bei ihr schlafen darf,
und so kamen wir ins Gespräch über Mr. Tanner, und ich erzählte, dass ich nicht genau weiß, ob
er zur Tatzeit des Mordes an Fiona Barnes, also am späten Samstagabend, eigentlich daheim war,
und plötzlich schaut sie mich an und sagt: Aber ich weiß, er war nicht daheim! Und erzählt ihre
Geschichte!« Mrs. Willerton nahm einen tiefen Schluck Schnaps. »Ich werde nie wieder einen
Untermieter aufnehmen, nie wieder, das kann ich Ihnen sagen! Ich habe ihm zum ersten November
gekündigt, aber wenn Sie ihn heute nicht verhaften, dann fliegt er gleich raus, das schwöre
ich! Keinen Tag mehr, keinen Tag länger lasse ich den in meinem Haus!«
»Er ist jetzt nicht daheim, nehme ich an?«, wandte sich Valerie an Reek.
Der schüttelte den Kopf. »Ich habe das überprüft, nein.« »Sie h ätten ja auch mal von selbst darauf kommen können, in der
Nachbarschaft herumzufragen«, sagte Mrs. Willerton vorwurfsvoll. »Da muss ich erst kommen und
den Fall aufklären!«
Valerie hatte eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, aber sie schluckte sie hinunter. Sie
durfte nicht so dumm sein, sich mit der reichlich einfach gestrickten, geltungsbedürftigen und
aggressiven Mrs. Willerton auf ein Streitgespräch einzulassen. Nicht an einem Punkt, an dem der
Fehler tatsächlich auf ihrer Seite lag. Sie durfte die Angelegenheit nicht aufbauschen. Sie
ging über die Bemerkung hinweg und sagte kühl zu Sergeant Reek: »Sie warten noch eine Weile
hier, Sergeant. Am besten draußen im Auto. Wenn Tanner aufkreuzt, bringen Sie ihn zur
Vernehmung mit aufs Revier.«
»Okay, Inspector.«
Sie wandte sich an Mrs. Krusinski. »Ich danke Ihnen für Ihre Aussage, Mrs. Krusinski.
Möglicherweise muss ich das alles noch schriftlich zu Protokoll nehmen, aber ich rufe Sie
vorher an. Mrs. Willerton!« Sie grüßte die Wirtin kühl, dann verließ sie hastig das Haus.
Draußen blieb sie einen Moment aufatmend an die Hauswand gelehnt stehen. Ihr Gesicht glühte,
und zum ersten Mal an diesem Tag empfand sie den Nebel als wohltuend.
Das war ein glattes Versagen, dachte sie. Sie zwang sich, tief durchzuatmen. Alles wird
gut.
Der Nebel würde sich lichten an diesem Tag. Man konnte es schon merken. Noch war er da, eine
Wand aus Watte, die alles schluckte, die jedes Geräusch fern und gedämpft erscheinen ließ. Aber
hin und wieder drang ein schwacher Lichtstrahl hindurch, kurz nur und wie ein Irrtum und doch
auch der Bote, der ankündigte, dass es irgendwo blauen Himmel gab und dass der Nebel nicht für
immer in der Bucht und in der Stadt bleiben würde.
Leslie und Dave hatten das Cafe verlassen und liefen nun die Uferpromenade entlang, den Marine
Drive, einen breiten, befestigten Weg, der um die Burg herum hinüber zur Nordbucht
führte.
Linker Hand erhoben sich die zackigen Felsen des Berges, rechts wurde der Weg von einer hellen
Steinmauer begrenzt. Große Betonblöcke schlossen sich als Wellenbrecher an.
Dahinter lag das Meer, aber sie konnten es nur schwach erkennen. Noch war der Nebel zu
stark.
Sie hatten nur ein paar Schritte laufen wollen, aber die kalte Luft in ihren Lungen war
köstlich gewesen, sogar die Nässe an ihren Wangen verführerisch. Sie liefen immer weiter, ohne
einen Gedanken an ein Ziel oder gar an den Rückweg zu verschwenden.
Er hatte sie gefragt, wie ihre Mutter gewesen war, und sie wunderte sich, weil sie frei und
ohne Zögern antwortete.
»Sie war immer fröhlich. Sie trug lange, bunte Gewänder, hatte Haare bis zur Taille, in die sie
farbige Bänder flocht. Sie war eigentlich blond wie ich, aber sie färbte sich die Haare
hennarot. Das Henna tönte auch ihre Handflächen. Ich kann mich an die Hände meiner Mutter nur
in diesem seltsamen Orangeton erinnern.
Ich glaube, sie war immer fröhlich, weil sie immer bekifft war. Sie reiste
von einem Hippiefestival zum nächsten. Ich sehe Lagerfeuer vor mir, viele fremde Männer und
Frauen, die alle gekleidet waren wie meine Mutter. Immerzu wurde Gitarre gespielt. Immerzu
kreisten die Joints. Ich glaube, dass sie auch LSD probierten und was weiß ich noch alles.
Meine Mutter tanzte mit mir. Um das Lagerfeuer herum, aber auch zu Hause in unserem Wohnzimmer.
Sie liebte die Musik von Simon und Garfunkel. Sie hörte Bridge over
troubled water bis zum Erbrechen.«
An dieser Stelle hatte sie innegehalten
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