Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
Vom Netzwerk:
in ihrem Redestrom und ihn angesehen, fast verwundert,
    weil sie ihm auch dies anvertrauen würde. »Ich kann das Lied bis heute nicht hören, Dave. Nicht
    ohne an sie zu denken und zu meinen, schreien zu müssen vor Trauer. Ich schalte das Radio
    sofort ab, oder ich verlasse den Raum, wenn es gespielt wird. Ich kann es nicht
    ertragen.«
    Sein Gesicht glänzte feucht vom Nebel. »Sie war deine Mum. Sie hat dich geliebt. Du hast sie
    geliebt.«
    Sie blickte an ihm vorbei ins graue Nichts. »Ich erinnere mich, dass sie mir oft sagte, ich sei
    das größte Geschenk ihres Lebens. Das allergrößte Geschenk.«
    »Dein Vater ... «
    Sie hob die Schultern. »Sie wusste es nicht. Meine Großmutter wusste es
    nicht. Meine Mum sagte manchmal, sie habe mich auf einem Festival eingefangen, ich sei wie ein wunderbarer Schmetterling, der
    zu ihr geflogen kam und bei ihr blieb. Was, wie ich später begriff, nur bedeutete, dass sie
    wieder einmal herumgevögelt hatte ohne Sinn und Verstand, noch keine achtzehn Jahre alt, und
    dabei schwanger geworden war und später beim besten Willen nicht mehr hätte sagen können, wer
    eigentlich überhaupt in Frage kam. Ich weiß es bis heute nicht, Dave. Ich werde es nie wissen.
    Als Kind und junger Teenager erfand ich mir die verschiedensten Väter. Tolle Männer, die
    beruflich durch die ganze Welt reisten und die man deshalb nie zu Gesicht bekam. Einmal
    behauptete ich, mein Vater arbeite im Weißen Haus in Washington, aber das glaubte mir niemand
    in der Klasse, und von da an war ich unten durch. Sie fragten mich immer wieder, ob mein Dad
    der Präsident der Vereinigten Staaten sei, und dann lachten sie sich halb tot. Von da an sprach
    ich nie mehr über meinen Vater. Es gab ja auch nichts zu erzählen.«
    Er lächelte, aber seine Augen blieben dabei ernst. »Es kann nicht leicht
    gewesen sein. Ich meine, eine Menge Kinder müssen aus den verschiedensten Gründen ohne Vater
    aufwachsen, aber zumindest kennen sie ihn oder wissen doch, wer er ist. Er hat einen Namen und
    ein Gesicht. Einen Beruf, einen Werdegang, eine Familie, aus der er stammt. Aber gar nicht zu
    wissen, wer er ist. Ohne den geringsten
    Anhaltspunkt zu sein ... Nachforschungen, vermute ich, sind nicht möglich?«
    »Nein, wie denn? Sie hat es bunt getrieben, zum großen Teil mit Männern, die sie gar nicht
    kannte, und sie war dabei dermaßen zugekifft, dass sie sie fünf Minuten nach dem Beischlaf
    schon nicht mehr wiedererkannt hätte. Ich war auch viel zu klein, um heute noch zu wissen, an
    welchen Orten wir überall waren, geschweige denn, wer sich dort sonst noch herumgetrieben
    hatte. Es waren die späten sechziger, die frühen siebziger Jahre. Und meine Mum
    mittendrin.«
    Behutsam fragte er: »Sie nahm Drogen, sagst du. Das bedeutet ... also, ich kann mir vorstellen,
    dass sie nicht nur lustig war. Fürsorglich. Zärtlich. Menschen, die Drogen nehmen ...
    «
    Er sprach nicht weiter, aber sie wusste, was er sagen wollte.
    »Das Verrückte, Dave, ist, dass ich, wenn ich an sie denke, immer die wunderbaren Momente vor
    mir sehe, die wunderbaren Momente empfinde. Ich sehe sie tanzen und lachen, spüre, wie sie mich
    an sich drückt. Es gibt auf Anhieb nichts, was das Bild trübt. Aber wenn ich nachdenke, bewusst
    und konzentriert ... dann ist da noch etwas anderes, und das ist nicht schön. Dann sehe ich
    andere Dinge ... ich sehe sie schlafend in ihrem Bett, den ganzen Tag, und ich stehe daneben
    und versuche sie zu wecken, weil ich solchen Hunger habe. Und weil mir kalt ist. Aber sie wacht
    nicht auf. Ich fühle auch wieder die Angst, wenn ich nachts aufwache und feststelle, sie ist
    nicht da. Ich bin ganz allein im Haus. Ich suche alles ab, jeden Winkel, ich schleiche sogar in
    den Keller hinunter ... Wir wohnten eine Weile in London, in einem fast abbruchreifen
    Gartenhaus, das sie für eine lächerliche Miete bekam. Jeder Balken dort knarrte ständig, an den
    Fensterkreuzen rüttelte der Wind. Es zog.
    Man konnte nur mit einem gusseisernen Ofen heizen, aber das setzte voraus,
    dass jemand Holz kaufte. Dass sie Holz
    kaufte. Wann tat sie das je? Meine Großmutter Fiona hat mir später einmal gesagt, sie wundere
    sich, wie ich meine frühe Kindheit überhaupt überlebt habe. Es sei immer eiskalt bei uns
    gewesen, behauptete sie, der Kühlschrank immer leer, und seltsame langhaarige Männer hätten in
    den Ecken gekauert und sich Zigaretten gedreht. Nun war Fiona wirklich selten zu Besuch, weil
    sie und meine Mum sich

Weitere Kostenlose Bücher