Das andere Kind
überhaupt nicht verstanden. Mum war von daheim abgehauen, als sie
sechzehn war, hatte dann ein Jahr in einem Heim verbracht, kam zurück, brach vor ihrem
achtzehnten Geburtstag erneut aus, wurde schwanger und hangelte sich von da an mit
verschiedenen Jobs durch, die alle nicht viel einbrachten. Sie musste den Kontakt zu ihrer
Mutter halten, weil sie sie ständig um Geld anpumpen musste. Fiona sagte, sie habe ihr
meinetwegen immer wieder unter die Arme gegriffen, wäre ich nicht gewesen, sie hätte von ihrer
Tochter nichts mehr wissen wollen. Als ich achtzehn war, erzählte mir Fiona, dass sie sogar
einen Sorgerechtsprozess meinetwegen angestrengt hatte. Da war ich drei, und Fiona war
überzeugt, dass ich bei meiner Mutter nicht anständig aufwuchs. Stell dir das mal vor, Dave,
sie hat gegen ihre eigene Tochter prozessiert. Sie hat verloren, aber sie brachte diese
Geschichte später immer wieder aufs Tapet, damit ich ja wusste, wie sehr sie um mein Wohl
gekämpft und wie dankbar ich zu sein hatte. Und vielleicht muss ich das ja auch: dankbar sein.«
Zu ihrem Schrecken merkte sie, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen, verzweifelt kämpfte
sie dagegen an.
»In den Jahren, in denen ich bei Fiona lebte, kamen oft Freunde von ihr zu
Besuch, und fast immer strich mir ir gendwann jemand über die Haare und sagte, wie glücklich ich mich doch schätzen könne,
eine solche Großmutter zu haben, und welch ein Segen es sei, dass es für mich so gekommen sei.
Was im Klartext hieß, es sei ein Segen, dass meine Mum so früh gestorben war.« Die Tränen
liefen ihr nun über die Wangen. Sie spürte, dass sie jeden Moment die Fassung verlieren
würde.
»Also war ich dankbar. Und erfüllte Fionas Wünsche. Ich war eine gute Schülerin. Ich studierte
Medizin. Ich bin eine erfolgreiche Ärztin. Fiona wünschte sich einen soliden Mann für mich,
also heiratete ich Stephen. Wir hatten eine schöne Wohnung. Wir verdienten Geld. Wir genossen
Ansehen. Und ich fühlte mich gut dabei, wie Fiona mir zeigte, dass sie zufrieden mit mir war.
Ich machte wieder gut, was ihre Tochter ihr angetan hatte. Die Hippietochter, die im
Drogenrausch starb. Jetzt hatte sie wenigstens die Vorzeigeenkelin. Aber einen Gefallen tat ich
ihr nicht: Sie wollte, dass ich meine Mum so sah, wie sie war: als einen lebensuntüchtigen
Menschen, verantwortungslos, leichtsinnig, schwach. Ich kann das nicht, Dave.« Sie sah ihn an,
und ihre Stimme zitterte vor Schluchzen. Sie dachte: Mist, ich heule Rotz und Wasser wie ein
kleines Mädchen.
»Ich will die anderen Bilder behalten, Dave. Die Bilder, in denen sie singt und tanzt und
lacht. Und in denen sie mir sagt, dass ich das größte Geschenk ihres Lebens bin. Sie hat mich
geliebt. Sie konnte lieben. Fiona konnte das nicht. Bis zum Schluss nicht.«
Sie weinte, als könne sie nie wieder aufhören, und plötzlich ging ihr der Gedanke durch den
Kopf Wie konnte das geschehen? Was hat er getan, dass ich ihm das erzähle? Wie hat er mich dazu
gebracht, dass ich weine? Ich habe es Stephen nie auf diese Art erzählt. Ich habe bei Stephen
nie geweint.
Sie ließ es zu, dass er sie in die Arme nahm und an sich zog. Irgendwo schrie gedämpft ein
Seevogel. Sie stand am Meer im Nebel, drückte das Gesicht an die Schulter eines fremden Mannes
und weinte. Sie weinte um ihre tote Großmutter. Weinte um ihre Mutter.
Weinte, weil sie fror. Und weil sie ihr ganzes Leben lang gefroren hatte.
»Ich habe Angst, dass ich einen Fehler mache«, sagte Ena, »oder dass ich meine Entscheidung
irgendwann furchtbar bereue. Ich war so lang allein, wissen Sie. Und als Stan dann kam ... Aber
irgendwie ... Es funktioniert nicht. Es ist nicht so, wie es sein sollte.«
Sie saßen in einem kleinen Cafe mitten im Stadtzentrum, zwei leer getrunkene Kaffeetassen und
zwei Wassergläser auf einem kleinen, runden Bistrotisch vor sich. Das Cafe war voller Menschen,
die Schutz suchten vor dem Wetter. Es roch nach nassen Wollmänteln, und immer, wenn jemand
hinausging oder hereinkam, drang Feuchtigkeit in den Raum. Ena sah sorgenvoll und unglücklich
aus.
Jennifer neigte sich vor. »Vor welchem Fehler haben Sie solche Angst?«
Ena atmete tief. »Wenn ich mich von ihm trenne. Ich habe Angst, dass das ein Fehler ist. Ich
habe aber auch Angst, dass es ein Fehler ist, wenn ich bleibe. Ich möchte das Richtige
tun.«
»Was machen Sie beruflich?«
»Ich arbeite für einen Anwalt. Hier in Scarborough.«
»Und heute
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