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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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akzeptieren müssen«, sagte Jennifer.
    Ena nickte, sehr in sich gekehrt, in Gedanken versunken. Dann plötzlich sah sie Jennifer wieder
    an, und nun stand eine Entschlossenheit in ihren Auen, die Jennifer zuvor nicht wahrgenommen
    hatte. »Jennifer - würden Sie mir einen großen Gefallen tun?«
    »Wenn ich kann ... «
    »Da ist noch etwas. Etw as, das mich mehr
    bedrückt als alles andere. Das, weshalb ich mit Gwen sprechen
    wollte. Ich muss mit jemandem reden, sonst werde ich verrückt.«
    »Ena, ich ... «
    »Ich habe niemanden. Ich brauche eine objektive Meinung, sonst verzweifle ich noch völlig. Ich
    finde überhaupt keine Ruhe mehr.«
    Beunruhigt von der Heftigkeit dieser Worte, fragte Jennifer: »Hängt es auch mit Stan Gibson
    zusammen?« »Ja. Aber nicht mit unserer Beziehung.«
    »Aber ich verstehe nicht ganz ... «
    Ena griff nach ihrer Handtasche, die an der Rückenlehne ihres Stuhls hing, und zog einen
    Schlüsselbund aus dem Seitenfach. »Hier. Die Schlüssel zu seiner Wohnung. Ich kann dort kommen
    und gehen, wie ich will. Er ist jetzt nicht daheim. Würden Sie mich dorthin
    begleiten?«
    Jennifer fühlte sich äußerst unbehaglich. Weder mit Ena Witty noch mit Stan Gibson hatte sie
    irgendetwas zu tun. Sie kannte beide nicht. Der Gedanke, hinter dem Rücken eines ihr
    wildfremden Mannes in dessen Wohnung zu gehen, missbehagte ihr zutiefst.
    „Können Sie nicht hier im Cafe mit mir darüber sprechen?«
    „Nein. Ich muss Ihnen etwas zeigen.«
    „Mir ist das ziemlich unangenehm«, sagte Jennifer. „Bitte. Es dauert nicht lange. Zehn Minuten. Haben Sie so viel Zeit?«
    Es war halb zwei. Der nächste Bus nach Staintondale ging um Viertel nach vier. Jennifer wusste,
    sie würde sich eine halbe Ewigkeit noch in der Stadt herumdrücken müssen, ohne recht zu wissen,
    was sie mit sich anfangen sollte. Ena Witty den Gefallen tun, um den diese so bat, würde
    zumindest bedeuten, die Zeit halbwegs sinnvoll zu füllen.
    »Ich habe Zeit, ja«, sagte sie schließlich, »aber ich ... Okay, ich komme mit. Länger als zehn
    Minuten bleibe ich jedoch bestimmt nicht in der Wohnung.«
    Enas Erleichterung war fast mit den Händen zu greifen. »Ich danke Ihnen. Ich danke Ihnen so
    sehr. Stan wohnt auch fast hier um die Ecke. Gleich am St. Nicholas Cliff.«
    »Dann lassen Sie uns aufbrechen«, sagte Jennifer und holte ihren Geldbeutel aus der Handtasche.
    „Sind Sie eigentlich sicher, dass er mittags nicht nach Hause kommt? Das könnte peinlich
    werden.«
    »Er ist heute auf einer Baustelle in Hull. Er kommt bestimmt nicht. Abgesehen davon - Stan
    sagt, sein Zuhause ist mein Zuhause. Sie sind eine langjährige Freundin von Gwen. Er hätte gar
    nichts dagegen, dass ich Sie zu uns mitbringe.«
    Sie zahlten, dann traten sie hinaus auf die Straße. Inzwischen hatte es zu regnen begonnen. Der
    Nebel hatte sich gelichtet, aber die Sonne würde sich doch noch nicht durchkämpfen können. »Wir
    müssen hier die Bar Street hinunter«, sagte Ena. Warum bin ich immer der Mensch, an den sich
    andere wenden, wenn sie Hilfe brauchen?, fragte sich Jennifer. Und warum gelingt es mir nicht,
    diese Rolle loszuwerden, obwohl sie mich immerhin schon meinen Job, mein Selbstvertrauen und
    meine Selbstständigkeit gekostet hat?
    Sie folgte Ena die Straße entlang.
    »Zu mir oder zu dir?«, fragte Dave.
    Sie waren die steile Treppe vom Hafen zur Stadt hinaufgeklettert und standen dort oben im
    strömenden Regen, der mit jeder Minute stärker zu werden schien.
    Leslie zögerte.
    »Ich weiß ja nicht, wie es dir geht«, fuhr Dave fort, »aber ich finde es hier draußen zunehmend
    ungemütlich. Und ich habe nicht so viel Lust auf irgendein überfülltes Cafe, in dem es nach
    nassen Mänteln riecht und man im allgemeinen Stimmengewirr sein eigenes Wort nicht
    versteht.«
    Sie blickte in seine Augen. Schöne, intelligente Augen, mit einer Lebendigkeit, die sie bei
    Stephen immer vermisst hatte. Ein Mann, der sein Leben nicht in den Griff bekam, der aber
    dennoch nicht die Ausstrahlung des ewigen Verlierers hatte. Dafür war zu viel von der Kraft in
    ihm erkennbar, mit der er dem Leben begegnete. Dave Tanner war ein Mann, der sie anzog, wie sie
    fast erschrocken plötzlich erkannte.
    Und im nächsten Moment schon löste der Schrecken sich auf, und zurück blieb
    die ebenso unerwartete wie auf eigentümliche Art beglückende Erkenntnis, dass Dave die Antwort
    auf die Frage war, die sie sich seit zwei Jahren wieder und wieder gestellt hatte, die

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