Das andere Kind
hellwach und
nervös, lang im Bett und stand erst auf, nachdem ich schon eine ganze Weile keinen Laut mehr im
Haus vernommen hatte.
Tatsächlich war Chad bereits verschwunden. Ebenso fehlte der Jeep, der immer im Hof parkte, was
mir die Hoffnung gab, dass er sich eine gute Strecke von der Farm entfernt aufhielt und auch
nicht so rasch wiederkommen würde. Arvid konnte ich nirgendwo entdecken. Vermutlich schlief er
noch.
Ich hielt mich nicht lange mit Frühstücken auf, sondern lief sogleich hinüber in einen
Schuppen, in dem Emma früher immer ihr Fahrrad untergestellt hatte. Tatsächlich lehnte es dort
noch immer an der Wand, sogar der Korb, in dem sie ihre Einkäufe transportiert hatte, war noch
hinter dem Sattel befestigt.
Meine Augen tränten ein wenig. Ich vermisste Emma plötzlich sehr.
Die Reifen hatten nicht allzu viel Luft, aber ich hoffte, dass es bis Ravenscar und zurück noch
gehen würde. Eine Luftpumpe konnte ich nirgends entdecken, und ich wollte keine Zeit durch zu
langes Herumsuchen verplempern. Schließlich wusste ich nicht, ob Chad nicht doch jeden Moment
wieder aufkreuzte.
Der Tag war wolkig, in der Nacht war Wind aufgekommen, der aus nördlicher Richtung wehte. Die
Luft war kühl und trocken. Genau richtig für einen Fahrradausflug. Die Feldwege machten mir
noch ein bisschen Schwierigkeiten, aber als ich die schmale Landstraße erreicht hatte, kam ich
recht flott voran. Meine Mutter hatte mir Schokolade in den Rucksack gepackt, die ich nicht
angerührt und nun für Nobody in meinen Korb gelegt hatte. Er würde sich freuen, und ich würde
ihm versprechen, ihn öfter zu besuchen und ihm immer etwas Gutes mitzubringen. Das heiterte ihn
sicher auf - falls er überhaupt deprimiert war. Vielleicht traf ich einen ganz zufriedenen
Jungen an.
Mit dem Tageslicht war die Zuversicht in mir erwacht. Hatte ich in der Nacht noch Nobodys
Schicksal in den düstersten Farben vor mir gesehen, so erschien mir die ganze Geschichte nun am
Morgen nicht mehr so bedrohlich. Am Ende ging es Nobody bei Gordon McBright sogar besser als
bei Arvid, der offenbar zunehmend verwahrloste, und bei Chad, der keine Sekunde am Tag Zeit für
ihn hatte. Bei den McBrights wurde er wenigstens beschäftigt, und auch wenn Gordon ein rauer
Geselle war, wie die meisten Farmer hier im Norden, hieß das noch nicht, dass er unmenschlich
und grausam sein musste.
Ravenscar besteht nur aus einer kleinen Ansammlung von Häusern, damals
nicht viel weniger als heute, sehr schön auf einer Anhöhe gelegen und mit einem großartigen
Blick über die nächste Bucht und über weites, grünes, hügeliges Land. Immer wieder sah man eine
Farm, wie ein Klecks zwischen all das Grün geworfen. Natürlich hatte ich keine Ahnung, welche
davon den McBrights gehörte, aber ich hatte beschlossen, mich durchzufragen. Irgendjemand würde
mir schon Auskunft geben können. »McBright?«, fragte die Frau, die hinter der Theke eines
kleinen Gemüsegeschäfts am Straßenrand stand und selbstgezogene Salatköpfe und Bohnen
verkaufte. »Was wollen Sie denn bei dem?«
»Ich möchte jemanden besuchen«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Sie schaute mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Sie wollen Gordon McBright besuchen?
Meine Liebe, da kann ich Ihnen nur dringend abraten. Der Mann ist ... « Sie tippte sich an die
Stirn.
Ich fand das nicht gerade ermutigend, ließ mir aber dennoch von ihr den Weg zur Farm
beschreiben. Ich verfuhr mich einmal, musste bei einer anderen Farm noch einmal nachfragen.
Auch dort schüttelte man den Kopf über mich.
»Sie sind ja ganz schön mutig«, meinte der Bauer und musterte mich mit Staunen.
»Ich will nur einen alten Freund besuchen«, murmelte ich, ehe ich mich
abwandte und wieder auf mein Fahrrad stieg. Insgeheim hatte ich gehofft, dass mich jemand auf
Nobody ansprechen würde. Schließlich lebte er seit fast einem halben Jahr bei McBright, also
hätte bereits jemand von seiner Existenz wissen können. Es hätte mich tief erleichtert, wenn
jemand auf meine Ankündigung, einen alten Freund besuchen zu
wollen, erwidert hätte: »Oh, Sie meinen bestimmt diesen netten
Jungen, der bei Gordon lebt! Ein bisschen plemplem, der Gute, aber er hat sich nicht schlecht
entwickelt. Hilft viel auf der Farm. Ist für Gordon fast so etwas wie ein Sohn
geworden!«
Wie naiv war ich gewesen, mir dies zu wünschen! Wie sehr war ich bemüht,
mir die Tatsachen zurechtzureden, um besser mit ihnen
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