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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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hellwach und
    nervös, lang im Bett und stand erst auf, nachdem ich schon eine ganze Weile keinen Laut mehr im
    Haus vernommen hatte.
    Tatsächlich war Chad bereits verschwunden. Ebenso fehlte der Jeep, der immer im Hof parkte, was
    mir die Hoffnung gab, dass er sich eine gute Strecke von der Farm entfernt aufhielt und auch
    nicht so rasch wiederkommen würde. Arvid konnte ich nirgendwo entdecken. Vermutlich schlief er
    noch.
    Ich hielt mich nicht lange mit Frühstücken auf, sondern lief sogleich hinüber in einen
    Schuppen, in dem Emma früher immer ihr Fahrrad untergestellt hatte. Tatsächlich lehnte es dort
    noch immer an der Wand, sogar der Korb, in dem sie ihre Einkäufe transportiert hatte, war noch
    hinter dem Sattel befestigt.
    Meine Augen tränten ein wenig. Ich vermisste Emma plötzlich sehr.
    Die Reifen hatten nicht allzu viel Luft, aber ich hoffte, dass es bis Ravenscar und zurück noch
    gehen würde. Eine Luftpumpe konnte ich nirgends entdecken, und ich wollte keine Zeit durch zu
    langes Herumsuchen verplempern. Schließlich wusste ich nicht, ob Chad nicht doch jeden Moment
    wieder aufkreuzte.
    Der Tag war wolkig, in der Nacht war Wind aufgekommen, der aus nördlicher Richtung wehte. Die
    Luft war kühl und trocken. Genau richtig für einen Fahrradausflug. Die Feldwege machten mir
    noch ein bisschen Schwierigkeiten, aber als ich die schmale Landstraße erreicht hatte, kam ich
    recht flott voran. Meine Mutter hatte mir Schokolade in den Rucksack gepackt, die ich nicht
    angerührt und nun für Nobody in meinen Korb gelegt hatte. Er würde sich freuen, und ich würde
    ihm versprechen, ihn öfter zu besuchen und ihm immer etwas Gutes mitzubringen. Das heiterte ihn
    sicher auf - falls er überhaupt deprimiert war. Vielleicht traf ich einen ganz zufriedenen
    Jungen an.
    Mit dem Tageslicht war die Zuversicht in mir erwacht. Hatte ich in der Nacht noch Nobodys
    Schicksal in den düstersten Farben vor mir gesehen, so erschien mir die ganze Geschichte nun am
    Morgen nicht mehr so bedrohlich. Am Ende ging es Nobody bei Gordon McBright sogar besser als
    bei Arvid, der offenbar zunehmend verwahrloste, und bei Chad, der keine Sekunde am Tag Zeit für
    ihn hatte. Bei den McBrights wurde er wenigstens beschäftigt, und auch wenn Gordon ein rauer
    Geselle war, wie die meisten Farmer hier im Norden, hieß das noch nicht, dass er unmenschlich
    und grausam sein musste.
    Ravenscar besteht nur aus einer kleinen Ansammlung von Häusern, damals
    nicht viel weniger als heute, sehr schön auf einer Anhöhe gelegen und mit einem großartigen
    Blick über die nächste Bucht und über weites, grünes, hügeliges Land. Immer wieder sah man eine
    Farm, wie ein Klecks zwischen all das Grün geworfen. Natürlich hatte ich keine Ahnung, welche
    davon den McBrights gehörte, aber ich hatte beschlossen, mich durchzufragen. Irgendjemand würde
    mir schon Auskunft geben können. »McBright?«, fragte die Frau, die hinter der Theke eines
    kleinen Gemüsegeschäfts am Straßenrand stand und selbstgezogene Salatköpfe und Bohnen
    verkaufte. »Was wollen Sie denn bei dem?«
    »Ich möchte jemanden besuchen«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
    Sie schaute mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Sie wollen Gordon McBright besuchen?
    Meine Liebe, da kann ich Ihnen nur dringend abraten. Der Mann ist ... « Sie tippte sich an die
    Stirn.
    Ich fand das nicht gerade ermutigend, ließ mir aber dennoch von ihr den Weg zur Farm
    beschreiben. Ich verfuhr mich einmal, musste bei einer anderen Farm noch einmal nachfragen.
    Auch dort schüttelte man den Kopf über mich.
    »Sie sind ja ganz schön mutig«, meinte der Bauer und musterte mich mit Staunen.
    »Ich will nur einen alten Freund besuchen«, murmelte ich, ehe ich mich
    abwandte und wieder auf mein Fahrrad stieg. Insgeheim hatte ich gehofft, dass mich jemand auf
    Nobody ansprechen würde. Schließlich lebte er seit fast einem halben Jahr bei McBright, also
    hätte bereits jemand von seiner Existenz wissen können. Es hätte mich tief erleichtert, wenn
    jemand auf meine Ankündigung, einen alten Freund besuchen zu
    wollen, erwidert hätte: »Oh, Sie meinen bestimmt diesen netten
    Jungen, der bei Gordon lebt! Ein bisschen plemplem, der Gute, aber er hat sich nicht schlecht
    entwickelt. Hilft viel auf der Farm. Ist für Gordon fast so etwas wie ein Sohn
    geworden!«
    Wie naiv war ich gewesen, mir dies zu wünschen! Wie sehr war ich bemüht,
    mir die Tatsachen zurechtzureden, um besser mit ihnen

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