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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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durch, wenn er dich sieht, und McBright ... «
    »Ja?«
    »Am Ende hetzt er seinen Hund auf dich oder geht mit dem Gewehr auf dich los. Er soll sehr
    rabiat reagieren, wenn sich jemand seiner Farm nähert. Er kommt mit anderen Menschen überhaupt
    nicht zurecht. Ich bezweifle, dass er dich näher als tausend Schritte an sein Grundstück
    heranlässt. «
    »Woher weißt du das?« »Ich habe mich bei ein paar Leuten in Ravenscar über ihn erkundigt«,
    murmelte Chad voller Unbehagen.
    Wie hatten er und Arvid Nobody an einen solchen Mann ausliefern können?
    Ich wagte diese Frage nicht laut zu stellen, weil ich fürchtete, Chad
    erneut wütend zu machen. Er sah sich durch mich ohnehin schon in die Enge getrieben, musste
    sich rechtfertigen und hatte dabei doch selbst - das war deutlich zu merken - ein äußerst
    schlechtes Gewissen, wenn er an Nobodys Schicksal dachte. Ich teilte di eses Gefühl, ja, es gelang mir kaum, mein Entsetzen zu
    verbergen. Ich hatte nie besondere Zuneigung zu Nobody empfunden, er war mir in erster Linie
    lästig gewesen, aber irgendwie hatte er zu dem Leben auf der Beckett-Farm gehört, und mit der
    Reife meiner siebzehn Jahre begriff ich die Verantwortung, die auch ich für den hilflosen
    Jungen hatte.
    Ich nahm mir vor, ihn auf jeden Fall in seinem neuen Zuhause aufzusuchen, auch wenn mir Chads
    Warnung natürlich Angst machte. Aber ich sagte mir, dass Gordon McBright wohl kaum jeden
    harmlosen Wanderer, der zu seiner Farm kam, erschießen konnte - er wäre ja längst im Gefängnis
    gelandet.
    »Ich bin müde«, sagte Chad, »und ich muss morgen sehr früh aufstehen. Ich denke, ich gehe jetzt
    schlafen.«
    Ich hatte geglaubt - und gehofft -, er werde mich bitten, ihn in sein Zimmer zu begleiten. Ich
    hatte gedacht, wir würden die Nacht eng umschlungen, einer in den Armen des anderen,
    verbringen. Aber er sagte nichts mehr, sondern verließ einfach die Küche. Gleich darauf vernahm
    ich seine Schritte auf der Treppe.
    Ich trank noch etwas Wasser, löschte dann das Licht und stieg ebenfalls die Treppe hinauf. In
    meinem alten Zimmer hatte sich nichts verändert - wenn man davon absah, dass eine dicke
    Staubschicht auf allen Möbeln lag und die Bettwäsche es war dieselbe, die ich bei meinem
    letzten Aufenthalt 1943 benutzt hatte, und sie war offensichtlich seither nicht abgezogen und
    gewaschen worden - muffig roch. Ich öffnete sofort das Fenster, um die frische, kühle Nachtluft
    hereinzulassen. Ich presste die Hände gegen mein heißes Gesicht.
    Es war alles zu viel gewesen. Die verzauberten Stunden am Strand. Und dann
    der jähe Stimmungswechsel, als wir auf Nobody zu sprechen gekommen waren. Seitdem war eine
    Distanz zwischen uns, die ich als schme rzhaft empfand. So
    schmerzhaft wie den Verfall der Beckett-Farm, den Dreck und die
    Verwahrlosung um mich herum.
    Und noch etwas begriff ich: Ich war enttäuscht von Chad, und das tat am meisten weh. Ich hatte
    ihm immer alles verziehen, die Herablassung, mit der er mich anfangs behandelt hatte, die
    Tatsache, dass er mich über den Tod seiner Mutter und seine Abreise an die Kriegsfront nicht
    unterrichtet hatte, dass er kaum je auf meine Briefe geantwortet hatte, dass er mich im
    Ungewissen gelassen hatte, ob er den Krieg überhaupt überlebt hatte. All das hatte ich nicht
    persönlich genommen. Ich kannte ihn ja. Er war kein mitteilungsfreudiger Mensch und würde nie
    einer werden. Ich konnte damit leben. Die Art und Weise jedoch, wie er sich Nobodys entledigt
    hatte, entsetzte mich; wie sehr, das merkte ich an jenem Abend noch nicht einmal in aller
    Deutlichkeit. Es war Gift eingesickert in die Gefühle zwischen uns, aber es wirkte langsam.
    Chad hatte mir seine Beweggründe genannt, und ich hatte sie verstanden. Ich konnte sie
    nachvollziehen. Ich hielt sie dennoch nicht für ausreichend, einem Menschen anzutun, was er
    Nobody angetan hatte.
    Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass mir vielleicht alles schlimmer erschien, als es war.
    Was natürlich auch die Möglichkeit einschloss, dass am Ende alles schlimmer war, als ich es mir
    vorzustellen vermochte.
    Ich schlief nicht in dieser Nacht. Ich grübelte. Ich war traurig. Ich machte mich gleich am nächsten Tag auf den
    Weg nach Ravenscar. Absichtlich war ich nicht aufgestanden, als ich Chad in aller Frühe hatte
    in der Küche herumwerkeln hören. Ich wollte nicht von ihm gefragt werden, was ich an dem Tag
    vorhatte, denn dann hätte ich ihn anschwindeln müssen. So blieb ich, obwohl

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