Das andere Kind
durch, wenn er dich sieht, und McBright ... «
»Ja?«
»Am Ende hetzt er seinen Hund auf dich oder geht mit dem Gewehr auf dich los. Er soll sehr
rabiat reagieren, wenn sich jemand seiner Farm nähert. Er kommt mit anderen Menschen überhaupt
nicht zurecht. Ich bezweifle, dass er dich näher als tausend Schritte an sein Grundstück
heranlässt. «
»Woher weißt du das?« »Ich habe mich bei ein paar Leuten in Ravenscar über ihn erkundigt«,
murmelte Chad voller Unbehagen.
Wie hatten er und Arvid Nobody an einen solchen Mann ausliefern können?
Ich wagte diese Frage nicht laut zu stellen, weil ich fürchtete, Chad
erneut wütend zu machen. Er sah sich durch mich ohnehin schon in die Enge getrieben, musste
sich rechtfertigen und hatte dabei doch selbst - das war deutlich zu merken - ein äußerst
schlechtes Gewissen, wenn er an Nobodys Schicksal dachte. Ich teilte di eses Gefühl, ja, es gelang mir kaum, mein Entsetzen zu
verbergen. Ich hatte nie besondere Zuneigung zu Nobody empfunden, er war mir in erster Linie
lästig gewesen, aber irgendwie hatte er zu dem Leben auf der Beckett-Farm gehört, und mit der
Reife meiner siebzehn Jahre begriff ich die Verantwortung, die auch ich für den hilflosen
Jungen hatte.
Ich nahm mir vor, ihn auf jeden Fall in seinem neuen Zuhause aufzusuchen, auch wenn mir Chads
Warnung natürlich Angst machte. Aber ich sagte mir, dass Gordon McBright wohl kaum jeden
harmlosen Wanderer, der zu seiner Farm kam, erschießen konnte - er wäre ja längst im Gefängnis
gelandet.
»Ich bin müde«, sagte Chad, »und ich muss morgen sehr früh aufstehen. Ich denke, ich gehe jetzt
schlafen.«
Ich hatte geglaubt - und gehofft -, er werde mich bitten, ihn in sein Zimmer zu begleiten. Ich
hatte gedacht, wir würden die Nacht eng umschlungen, einer in den Armen des anderen,
verbringen. Aber er sagte nichts mehr, sondern verließ einfach die Küche. Gleich darauf vernahm
ich seine Schritte auf der Treppe.
Ich trank noch etwas Wasser, löschte dann das Licht und stieg ebenfalls die Treppe hinauf. In
meinem alten Zimmer hatte sich nichts verändert - wenn man davon absah, dass eine dicke
Staubschicht auf allen Möbeln lag und die Bettwäsche es war dieselbe, die ich bei meinem
letzten Aufenthalt 1943 benutzt hatte, und sie war offensichtlich seither nicht abgezogen und
gewaschen worden - muffig roch. Ich öffnete sofort das Fenster, um die frische, kühle Nachtluft
hereinzulassen. Ich presste die Hände gegen mein heißes Gesicht.
Es war alles zu viel gewesen. Die verzauberten Stunden am Strand. Und dann
der jähe Stimmungswechsel, als wir auf Nobody zu sprechen gekommen waren. Seitdem war eine
Distanz zwischen uns, die ich als schme rzhaft empfand. So
schmerzhaft wie den Verfall der Beckett-Farm, den Dreck und die
Verwahrlosung um mich herum.
Und noch etwas begriff ich: Ich war enttäuscht von Chad, und das tat am meisten weh. Ich hatte
ihm immer alles verziehen, die Herablassung, mit der er mich anfangs behandelt hatte, die
Tatsache, dass er mich über den Tod seiner Mutter und seine Abreise an die Kriegsfront nicht
unterrichtet hatte, dass er kaum je auf meine Briefe geantwortet hatte, dass er mich im
Ungewissen gelassen hatte, ob er den Krieg überhaupt überlebt hatte. All das hatte ich nicht
persönlich genommen. Ich kannte ihn ja. Er war kein mitteilungsfreudiger Mensch und würde nie
einer werden. Ich konnte damit leben. Die Art und Weise jedoch, wie er sich Nobodys entledigt
hatte, entsetzte mich; wie sehr, das merkte ich an jenem Abend noch nicht einmal in aller
Deutlichkeit. Es war Gift eingesickert in die Gefühle zwischen uns, aber es wirkte langsam.
Chad hatte mir seine Beweggründe genannt, und ich hatte sie verstanden. Ich konnte sie
nachvollziehen. Ich hielt sie dennoch nicht für ausreichend, einem Menschen anzutun, was er
Nobody angetan hatte.
Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass mir vielleicht alles schlimmer erschien, als es war.
Was natürlich auch die Möglichkeit einschloss, dass am Ende alles schlimmer war, als ich es mir
vorzustellen vermochte.
Ich schlief nicht in dieser Nacht. Ich grübelte. Ich war traurig. Ich machte mich gleich am nächsten Tag auf den
Weg nach Ravenscar. Absichtlich war ich nicht aufgestanden, als ich Chad in aller Frühe hatte
in der Küche herumwerkeln hören. Ich wollte nicht von ihm gefragt werden, was ich an dem Tag
vorhatte, denn dann hätte ich ihn anschwindeln müssen. So blieb ich, obwohl
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