Das andere Kind
leben zu können. Nobody war nicht ein bisschen plemplem. Er war dermaßen plemplem, dass er kaum zu irgendeiner Art von
Arbeit eingesetzt werden konnte, nicht einmal zu solcher, die ausschließlich Körperkraft
erforderte. Denn auch dafür musste er irgendetwas verstehen, zumindest kapieren, dass er tun
sollte, wozu er aufgefordert wurde. So, wie ich ihn erlebt hatte, konnte ich m ir kaum einen anderen Weg vor stellen, ihn zum
Arbeiten zu bringen, als durch körperliche Gewalt, unter der der Widerstand, den sein
umnachtetes Gehirn leistete, zerbrechen würde. Aber natürlich mochte ich mir das nicht
vorstellen.
Und: ... für Gordon fast so etwas wie ein Sohn
geworden? Dieser Gordon McBright schien bei den Bewohnern von
Ravenscar als eine Art Teufel zu gelten. Niemand unterhielt Kontakt zu ihm, niemand schien
fassen zu können, dass ich ihn tatsächlich aufsuchen wollte.
Und dann sollte ausgerechnet Nobody sein Herz erweicht haben?
Am liebsten wäre ich umgekehrt. Ich hatte Angst - vor Gordon McBright selbst, aber auch davor,
in welcher Verfassung ich Nobody vorfinden würde. Was, wenn ich den sicheren Eindruck hätte,
zur Polizei gehen zu müssen? Ich liebte Chad, ich wollte ihn heiraten. Entschied ich mich,
Nobody zu retten, würde unsere Liebe mein Vorgehen nicht überstehen. Chad würde es mir nie
verzeihen, wenn ich ihn in dieser Angelegenheit in Schwierigkeiten brachte. Er hatte so
erschöpft gewirkt, so sorgenbeladen. Er kämpfte darum, den Besitz seiner Eltern zu erhalten,
und ganz offenbar stand ihm dabei das Wasser bis zum Hals.
Ich kann einfach nicht noch irgendeinen weiteren Ärger gebrauchen, hatte er gesagt, in der vergangenen Nacht, in der verdreckten Küche seines
Hauses, und er hatte verzweifelt dabei gewirkt.
Sollte ausgerechnet ich es sein, die ihm den Ärger, den er so fürchtete, bescherte?
Ich fuhr dennoch weiter, trat sogar mit aller Kraft in die Pedale des alten
Rads, dessen Reifen zunehmend Luft verloren und immer schwerer zu bewegen waren. Durch die
körperliche Anstrengung versuchte ich die quälenden Gedanken
in meinem Kopf zu betäuben. Zum ersten Mal in meinem Leben würde ich
vor einer schweren Gewissensentscheidung stehen. Plötzlich wünschte ich, ich wäre nicht nach
Yorkshire gekommen.
Ich sah die Farm schon von ferne. Sie lag weit außerhalb von Ravenscar und ein gutes Stück vom
Meer entfernt, recht tief bereits im Landesinnern. Die Gebäude befanden sich auf einer kleinen
Anhöhe, oberhalb eines Waldstücks. Weit und breit gab es keine andere menschliche Behausung.
Hier herrschten Einsamkeit und Abgeschiedenheit.
Der Tag war nicht sonnig. Nur gelegentlich blitzte blauer Himmel durch ein paar Wolkenlücken
hindurch. Aber trotz allem war es ein heller Augusttag. Ein schöner Tag. Der Wind bog die hohen
Gräser und fegte über die steinernen Mauern. Er roch nach Meer und nach Sommer. Die Stimmung
hätte selbst in dieser menschenleeren Gegend schön sein können, sogar auf eine wilde und
ursprüngliche Art romantisch. Doch das war sie nicht. Das Anwesen wirkte düster und bedrohlich,
und ich hätte nicht einmal genau sagen können, woran das lag. Selbst von Weitem wirkte es
verwahrlost, aber es war sicher nicht heruntergekommener als die Beckett-Farm, trotzdem schien
es eine Atmosphäre von Kälte und Grauen auszustrahlen, die mich frösteln ließ. Oder war ich
vorbelastet durch all das, was die Leute angedeutet hatten?
Zögernd fuhr ich näher. Der Feldweg war steinig und von Disteln überwuchert, und es fiel mir
immer schwerer, das Rad im Gleichgewicht zu halten. Zuletzt ging es den Hügel hinauf, ich
musste absteigen und schieben. Mehrfach blieb ich stehen. Mir war heiß geworden, ich spürte den
Schweiß überall am Körper.
Unbehelligt kam ich bis zu dem Tor, das d en
Zugang zum Hof verschloss. Ställe und Schuppen waren halbkreisförmig
vor dem Wohnhaus angeordnet, so dass sie eine Art Mauer bildeten, die festungsähnlich das
Gehöft umgrenzte. Disteln und Brennnesseln wucherten zwischen den verrosteten Geräten, die
überall herumstanden. Ein Auto parkte direkt vor der Haustür. Es war das Einzige, was hier
offenbar immer wieder bewegt wurde, denn es war nicht von Unkraut umgeben.
Ich konnte das alles sehen, indem ich mich auf die Zehenspitzen stellte und über das Holztor
spähte. Mein Rad hatte ich einfach am Wegrand ins Gras fallen lassen. Ich hörte mein eigenes
Herz hart, laut und schnell pochen. Sonst hörte ich
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