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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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nichts.
    Ich kann nicht berichten, dass irgendetwas passiert wäre. Nichts, was dramatisch oder
    schrecklich gewesen wäre. Weder stürmte ein zähnefletschender Hund auf mich zu, noch erschien
    Gordon McBright mit dem Gewehr im Anschlag. Ich wurde nicht beschimpft, nicht verjagt. Ich
    stand einfach da, schaute über das Tor, und nichts geschah.
    Und doch, auf eine Weise, die sich schwer beschreiben lässt, war dieses Nichts schlimmer, als
    es ein tobender McBright hätte sein können. Wäre er als Person in Erscheinung getreten, hätte
    ich mich mit ihm auseinandersetzen, mir ein Bild von ihm machen, mich mit ihm konfrontieren
    können. So blieb er ein Phantom.
    Und was noch unheimlicher war: Ich konnte spüren, dass er da war. Ich konnte spüren, dass
    Menschen auf dem Hof waren, der gottverlassen und ausgestorben wirkte. Es gab darüber hinaus
    ein Indiz: die Reifenspuren des Autos, die quer über den Hof verliefen und aus niedergedrücktem
    Gras und Unkraut bestanden, das noch nicht die Zeit gehabt hatte, sich wieder aufzurichten. Vor
    höchstens einer Stunde, schätzte ich, war der Wagen hier geparkt worden. Und wie sollte man von
    hier fortgelangen ohne Auto?
    Jedoch hätte es dieses Beweises nicht bedurft. Ich wusste einfach, dass ich nicht allein war.
    Ich konnte die Blicke spüren, die sich hinter den Fensterscheiben auf mich richteten. Ich
    konnte fühlen, dass die Stille, die hier herrschte, nicht die Stille der Verlassenheit war.
    Sondern die des Entsetzens, des Grauens. Die Stille des Bösen. Sogar die Natur hielt den Atem
    an.
    Vor Jahren hatte ich einmal einen Satz in einem Buch gelesen:
    Ein O rt, der aus den Händen Gottes gefallen
    war.
    Jetzt begriff ich, was der Autor gemeint hatte.
    Und in all dieser unheilvollen, furchtbaren Stille hörte ich Nobody schreien. Ich hörte ihn
    nicht mit meinen Ohren, denn alles war und blieb ruhig. Aber ich vernahm ihn mit all meinen
    anderen Sinnen, ich kann das beschwören. Ich hörte ihn um Hilfe schreien. Ich hörte, dass er
    nach mir rief. Ich hörte seine Verzweiflung und Todesangst. Es waren die Schreie eines
    verlassenen Kindes, gequält und voller Schmerz.
    Ich hob mein Fahrrad auf, sprang in den Sattel und jagte, so schnell ich
    konnte, den Hügel hinunter. Zweimal wäre ich fast gestürzt, denn mein Rad fuhr praktisch schon
    auf den Felgen. Ich wollte fort von diesem Ort, fort von den Schreien, die mir zu folgen
    schienen. Ich wusste jetzt, dass Nobody in der Hölle gelandet war. Was immer auf dieser Farm
    mit ihm geschah, es peinigte ihn fast zu Tode. Er war total hilflos, und selbst wenn Gordon
    McBright ihn umbringen würde, würde es niemand bemerken. Er konnte die Leiche in einem Feld
    verscharren, und keiner würde es mitbekommen. Auf furchtbare Weise erwies sich der Name, den
    Chad und ich ihm leichtfertig und nicht frei von Gehässigkeit gegeben hatten, als nur allzu
    zutreffend: Nobody. Es gab diesen Jungen nicht. Eine Verkettung unglücklicher Umstände hatte
    Brian Somerville in den Wirren der Kriegsjahre durch alle behörd lichen Raster fallen lassen. Er war zum Niemand geworden. Er
    genoss keinerlei Schutz. Er war durch seine Behinderung auch nicht in der Lage, sich selbst zu
    schützen. Auf Gedeih und Verderb war er jedem Menschen ausgeliefert, dem er in die Hände
    fiel.
    Drei Personen wussten von ihm und seinem Schicksal: Chad, Arvid und ich. Wir drei hätten etwas
    unternehmen, ihm helfen müssen.
    Wir taten es nicht. Wir hatten unsere Gründe, der Hauptgrund war Angst. Ich weiß bis heute,
    dass dies keine Entschuldigung sein kann. Was wir getan haben - oder besser: was wir nicht
    getan haben -, ist unverzeihlich.
    Ich habe dafür bezahlt. Vor allem mit einem Bild, das mich durch die Jahrzehnte meines Lebens
    immer wieder heimsuchte, in Tag- wie in Nachtträumen: jenes letzte Bild, das ich von Brian
    Somerville habe. Der kleine, frierende Junge, der im Februarschnee am Hoftor der Beckett-Farm
    steht und mir nachblickt, der weinen möchte, weil ich von ihm gehe, der aber unter Tränen zu
    lächeln versucht, weil er glaubt, dass ich zurückkommen und ihn holen werde.
    Der zu lächeln versucht, weil er mir vertraut.

DONNERSTAG, 16. OKTOBER
    Sie hatte keine Lust mehr weiterzulesen. Sie
    stand auf, blickte aus dem Fenster. Die Nacht war dunkel, wolkig, mondlos, ohne Sterne. Vom
    Hafen blitzten ein paar Lichter herüber. Das Meer war wie eine schwarze, bewegte
    Masse.
    Sie ging in die Küche hinüber, sah auf der Uhr
    dort, dass es schon

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