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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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nach Mitternacht war. Sie öffnete eine Whiskyflasche, setzte sie an den
    Mund, trank ein paar tiefe Züge. Wischte sich mit dem Ärmel ihres Pullovers die Lippen ab. Fing
    plötzlich an zu weinen.
    Was war aus Brian Somerville,
    dem anderen Kind, geworden?
    Die Bilder schossen in ungeordneter
    Reihenfolge durch ihren Kopf: ihre Großmutter als siebzehnjähriges Mädchen, Chad Beckett als
    junger Mann, dem die Sorgen über den Kopf wuchsen, die Farm, verwahrlost und kurz vor dem
    Zusammenbruch stehend. Der Krieg gerade eben vorbei.
    Versuche, sie zu verstehen, sagte eine
    Stimme in ihrem Kopf Versuche, sie nicht zu verurteilen. Versuche, ihr zu verzeihen.
    Sie weinte heftiger,
    setzte erneut die Flasche an. Sie sah den
    kleinen Jungen vor sich, der ein Opfer gewesen war vom ersten Tag seines Lebens an und der es
    geblieben war, weil ... Fiona sich geweigert hatte, ihn zu schützen. Weil sie sich, vor die
    Wahl gestellt, entschlossen hatte, Chad Beckett zu schützen. Den Mann, den sie
    liebte.
    Den zu lieben sie zumindest geglaubt
    hatte.
    Als ob Fiona Barnes je geliebt hätte
    in ihrem Leben.
    Ihr wurde schwindelig. Sie hatte
    lange nichts mehr gegessen und kippte nun hochprozentigen Alkohol in sich hinein.
    warum habe ich immer, immer
    gefroren als Kind? warum ist meine Mutter drogensüchtig gewesen?
    Sie musste herausfinden, was
    aus Brian Somerville geworden war. Es blieben noch ein paar Seiten zu lesen. Fionas ganzes
    weiteres Leben konnten sie nicht enthalten. Vermutlich einen Ausblick auf Brians
    Schicksal.
    »Ich kann das jetzt nicht«,
    murmelte sie.
    Sie trank
    den Whisky wie Wasser. Das wäre die nächste Frage: warum bin ich
    Alkoholikerin geworden?
    Natürlich war sie nicht
    wirklich zur Alkoholikerin geworden. Sie trank nur etwas zu viel und etwas zu oft. Immer dann,
    wenn die Dinge problematisch wurden. Sie wusste, dass sie dringend damit aufhören musste. Die
    geöffnete Flasche in der Hand stand sie mitten in der Küche und blickte auf die vertrauten
    Gegenstände ringsum, die Kaffeemaschine, das Bord mit den Kaffeebechern, das sie noch aus ihrer
    Kindheit kannte. Der tönerne mit Blumen bemalte Aschenbecher auf dem Tisch, den sie selbst
    irgendwann in ihrer Schulzeit für Fiona getöpfert hatte. Immerhin, ihre Großmutter hatte ihn
    aufbewahrt und benutzt. Für eine Frau wie Fiona war das eine Menge.
    Sie stellte die Flasche
    auf die Anrichte, nahm sie aber sofort wieder auf und trank ein paar weitere Schlucke. Sie
    würde sich jetzt betrinken. Sie würde sich zudröhnen bis zum Filmriss, dann würde sie, wenn sie
    das noch schaffte, ins Bett wanken und bis weit in den nächsten Tag hinein schlafen. Ihr würde
    speiübel sein, wenn sie schließlich aufwachte, aber der Kopfschmerz würde ihre Gedanken
    betäuben, sie wusste das aus Erfahrung. Ein wirklich heftiger Kater war geeignet, die Welt
    ringsum weitgehend auszuschalten. Der pelzig trockene Mund, der Brechreiz, das Stechen in den
    Schläfen marterten so, dass alles andere in den Hintergrund trat. Sie sehnte sich auf einmal
    danach. Krank zu sein. Im Bett liegen und jammern zu dürfen. Die Decke über den Kopf ziehen zu
    können.
    Kind sein und getröstet
    werden.
    Bloß dass der Trost auf
    sich würde warten lassen. Keine Mutter, keine Großmutter. Trösten hatte ohnehin nie zu Fionas
    Stärken gehört. Stephen war ausgezogen. Lag ein paar Häuser die Straße hinunter in seinem Bett
    im Crown Spa Hotel und schlief wahrscheinlich friedlich.
    Sie
    war allein. He, Cramer, jetzt lass dich nicht überfluten vom
    Selbstmitleid, dachte sie, während die Tränen über ihre Wangen
    rollten. Und in diesem Augenblick klingelte es an der Tür.
    Erst nachdem sie
    den Öffner betätigt hatte und oben an der Wohnungstür auf den nächtlichen Besucher wartete, kam
    ihr in den Sinn, dass es nicht ungefährlich war, nachts um halb eins einfach die Tür zu öffnen,
    aber es mochte am Alkohol liegen oder an ihrem Gefühl der Verlorenheit, dass sie dennoch im
    Treppenhaus stehen blieb und auf die Schritte lauschte, die die Stufen heraufkamen. Die
    Beleuchtung war automatisch angesprungen, das sehr helle, fast weiße Licht ließ Leslie
    blinzeln. Sie hielt noch immer die geöffnete Flasche in der Hand. Ihr Make-up musste
    verschmiert sein, ihr Haar zerwühlt.
    Es war ihr
    gleichgültig.
    Dave Tanner tauchte
    vor ihr auf, einen großen Koffer in der Hand. Er blieb stehen. »Gott sei Dank«, sagte er, »du
    warst noch wach?« Sie blickte an sich herab. Sie trug Jeans

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