Das andere Kind
hinreißendes Haus weiter oben in der Sea Cliff Road, die
sich an ihrem Ende im Meer zu verlieren scheint, eine Straße mit Bäumen und geräumigen Häusern
und schön angelegten Gärten. Wir hätte eine glückliche, intakte Familie sein können, und ich
hätte aufgehen können in meinem Leben dort. Stattdessen zog es mich immer wieder zur
Beckett-Farm. Mir war lange Zeit gar nicht bewusst, wie viel Zeit ich tatsächlich dort
verbrachte, aber es gab dann einmal eine sehr hässliche Szene mit meiner Tochter Alicia; sie
war zwanzig oder einundzwanzig, bereits Mutter der kleinen Leslie, lebte ein zielloses,
unstrukturiertes Leben, und ich hielt ihr vor, wie viel mehr sie aus sich und ihrer Zukunft
machen könnte.
»Du hattest doch immer alles!«,
rief ich. »Du kannst keine Defizite haben, so wie manche anderen jungen Leute das von sich
behaupten können. Worauf musstest du je verzichten?«
Ihre Haut war schon damals von
einem ungesunden Gelb, sie hatte ständig Leber- und Gallenprobleme, wegen der Drogen und ihrer
vollkommen unmöglichen Ernährung. Ich erinnere mich, dass sich diese krankhafte Farbe noch
vertiefte, als sie sehr heftig erwiderte: »Worauf ich verzichten musste? Auf meine Mutter! Auf
meine Mutter musste ich ständig verzichten!«
Ich war ehrlich verblüfft. »Auf
mich?« »Eine andere Mutter habe ich leider nicht.« »Aber ich ... «
»Du warst nie
da«, unterbrac h sie mich, »du hingst doch im mer nur auf dieser Farm herum und liefst diesem Chad Beckett nach, und alles, was ich
praktisch tagtäglich vorfand, wenn ich aus der Schule kam, waren ein vorgekochtes Essen und ein
Zettel, auf dem stand, du seist auf der Beckett-Farm und kämst später zurück. Ich wünschte, ich
hätte diese Zettel aufgehoben. Ich könnte ganze Container damit füllen!«
Mir ist inzwischen klar
geworden, dass sie recht hatte. Ich habe dich nie losgelassen, Chad. Ganz gleich, wie wortkarg
und wenig umgänglich du schließlich wurdest, für mich warst du der wilde, hübsche Junge aus den
Kriegsjahren, der mit mir in der Abenddämmerung in der Bucht von Staintondale saß und in den
Krieg ziehen wollte, um die Welt zu retten. Der Junge, den ich vergöttert habe, von dem ich mir
alles erhofft, mit dem ich mir in meiner Fantasie ein ganzes Universum zusammengeträumt habe -
ohne zu realisieren, dass dies eben wirklich nur in meiner Fantasie stattfand, nicht auch in
deiner. Was dich betrifft, so bin ich über Jahrzehnte eine Romantikerin geblieben - dabei
glaube ich nicht, dass man mir grundsätzlich eine romantische Ader nachsagen kann. Ich habe mir
viel in die eigene Tasche gelogen. Ich habe mir vorgemacht, jemand - ich! - müsse dich
schließlich unterstützen. Dein Vater starb, du warst lange, lange Jahre ganz allein auf der
Farm. Du arbeitetest die Schulden ab, warst überlastet und voller Sorgen. Ich kochte das Essen
für dich, ich nahm deine Wäsche mit, um sie zu waschen. Ich sprach mit dir über Ernteprobleme
und fallende Getreidepreise. Ich wusste über deinen Alltag auf der Farm weit besser Bescheid
als über den meines Mannes in der Universität, der mich nicht im Geringsten interessierte. Vor
allem verlor ich den Kontakt zu dem, was im Kopf, in der Seele und im Leben meiner Tochter
vorging. Ich kannte den Preis für ein Kilo Schafwolle.
Ich kannte nicht den Termin
der Schulaufführung, in der sie einen Solo-Gesangsauftritt hatte.
Und nachdem du schließlich
geheiratet hattest, Vater geworden warst, war ich an dieses seltsame Leben mit dir so gewöhnt,
dass ich den Absprung nicht fand. Ich konnte dich nicht loslassen, bloß weil es jetzt eine
andere Frau gab. Ich redete mir sogar noch ein, auch sie unterstützen zu müssen. Sie war jung
und unerfahren und überfordert. Ich war hilfsbereit und immer zur Stelle, wenn »Not am Mann«
war. Bloß dass das eigentlich nie der Fall war. Die Familie hatte keineswegs unlösbare
Probleme. Das einzig echte Problem war vermutlich ich selbst.
Deine Frau, Chad, muss mich
manchmal zum Kotzen gefunden haben. Aber sie war der unterwürfige, ängstliche Typ. Sie schwieg
und litt. Das Verrückte ist, dass wir tatsächlich nie eine Affäre hatten. Körperlich haben wir
unsere Ehepartner nie betrogen. Vielleicht hätte das sogar alles einfacher gemacht, zumindest
klarer. Vielleicht hätte Oliver die Scheidung eingereicht, wenn er es herausgefunden hätte.
Vielleicht hätte deine Frau die Kraft gehabt zu gehen, hätte sie uns einmal im
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