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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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darüber nachgedacht, Chad, was es war,
    was mich auf ewig blockierte. Die Sorge, deine Freundschaft zu verlieren? Ich glaube, so
    wichtig du mir immer warst, noch immer bist, so hätte doch diese Furcht irgendwann nicht mehr
    ausgereicht, die Stimme in mir, die mich so oft an Brian gemahnte, zum Schweigen zu bringen.
    Ich denke nicht, dass ich mein Schweigen einzig damit erklären, schon gar nicht rechtfertigen
    kann, dass ich einmal in dich verliebt gewesen bin. Nicht einmal damit, dass ich dich,
    vielleicht, mein ganzes Leben lang geliebt habe.
    Nein, die
    Erklärung ist viel banaler, und sie hat fast naturge- setzlichen Charakter: Je weiter und
    länger wir einen Weg gehen, umso schwerer und konsequenzenreicher wird der Rückweg. Es gibt
    immer den Punkt, an dem wir Nein! rufen
    und das Weiterlaufen verweigern können. Wenn wir den verpassen, wird jeder spätere Moment
    komplizierter und bringt uns in den Erklärungsnotstand, weshalb wir nicht schon früher ... Und
    irgendwann wagen wir es einfach nicht mehr. Wir sind so weit gegangen, dass die Umkehr
    unmöglich geworden ist. Zumindest eine, die noch einigermaßen ehrenvoll für uns wäre. Und dann
    beißen wir die Zähne zusammen und marschieren weiter, laut pfeifend und trällernd und mit viel
    Beschäftigung nebenher, um nur die Stimme unseres Gewissens nicht hören zu müssen. So habe ich
    es getan.
    Du vielleicht auch, ich weiß es
    nicht. Manchmal fürchte ich fast, dass dich dein Gewissen in der Somerville- Tragödie ohnehin
    nicht halb so sehr gepiesackt hat wie mich meines. Klären konnte ich diese Frage nie. Die
    wenigen Versuche, die ich in all den Jahren angestellt habe, mit dir über Brian und unsere
    Rolle in dem Drama zu sprechen, hast du immer torpediert. Du wolltest nicht darüber reden!
    Schluss. Aus.
    Damals im Sommer, schon wenige
    Tage nach meiner Ankunft in Yorkshire, bin ich wieder zurück nach London gereist. Alles hatte
    sich verändert. Ich konnte deine Distanziertheit nicht ertragen, deine Kälte. Den Umstand, dass
    du mir beharrlich auswichst, dass du mir zu verstehen gabst, keinerlei Kontakt zu wünschen. Es
    gab keine Abende in der Bucht mehr. Keine Gespräche. Zärtlichkeiten schon gar nicht. Brian
    Somerville und die Bedrohung, die er für dich darstellte, standen zwischen uns. Du konntest
    keinen Schritt mehr auf mich zumachen. Ich glaube, du warst tief erleichtert, als ich endlich
    meinen Rucksack packte und die Farm verließ.
    Ich weiß gar nicht mehr, was
    ich meiner erstaunten Mutter und dem verblüfften Harold erzählte. Irgendetwas. Ich nehme an,
    sie dachten sich ihren Teil. Ich hatte nie über meine Gefühle zu dir gesprochen, aber
    sicherlich hatte zumindest Mum etwas in dieser Richtung vermutet, und nun nahm sie wohl an,
    dass es schief gelaufen war. Dass ich aus Liebeskummer und Enttäuschung Scarborough Hals über
    Kopf wieder verlassen hatte. Ganz falsch lag sie damit ja auch nicht, wenngleich sie nichts von
    den komplizierten Verwicklungen und Vorgängen ahnte, die zu der Situation geführt
    hatten.
    Ende September ging ich in
    London zum Einwohnermeldeamt und erkundigte mich nach der Familie Somerville. Ich nannte ihre
    frühere Adresse und gab an, es handele sich um Bekannte, über deren Verbleib ich etwas erfahren
    wollte. Derlei Anfragen waren damals, knapp eineinhalb Jahre nach Kriegsende, absolut üblich.
    Männer waren nicht von der Front zurückgekehrt, Familien waren aus den großen Städten wegen der
    Bomben evakuiert worden und dann verschollen. Es gab noch immer Kinder, die ihre Eltern
    suchten, Eltern, die nach ihren Kindern fahndeten, Frauen nach Ehemännern und Verlobten, Männer
    nach ihren Frauen. Das Rote Kreuz hängte lange Listen mit Suchanfragen aus, und noch immer
    fanden Menschen zueinander, die schon jede Hoffnung aufgegeben hatten.
    Die Schatten des Krieges waren
    noch zu spüren.
    Was die Somervilles anging, so
    erfuhr ich erwartungsgemäß, dass die ganze Familie im November 1940 bei einem Luftangriff
    getötet worden war.
    »Alle?«, fragte ich die junge
    Frau, die hinter dem Schalter saß und für mich in ihren Akten herumgesucht hatte.
    Sie sah mich mitfühlend
    an.
    »Alle, leider. Mr. und Mrs.
    Somerville und ihre sechs Kinder. Das Haus ist eingestürzt, sie konnten den Luftschutzkeller
    nicht mehr verlassen.«
    »Man hat alle später aus den
    Trümmern geborgen?«, bohrte ich weiter. »Ja. Es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen nichts
    Erfreulicheres sagen kann.«
    »Danke«,

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