Das andere Kind
Bett zusammen
erwischt. So aber wusste niemand, was er uns eigentlich genau vorwerfen konnte. Zumal ich unter
dem Deckmantel der guten Samariterin agierte.
Die Frage, die mich oft
beschäftigt, ist die, ob ohne Brian Somerville alles anders gekommen wäre. Ob wir geheiratet,
ein paar wohlgeratene Kinder bekommen hätten und glücklich geworden wären. Oder mache ich mir
da schon wieder etwas vor? Ist es vielleicht so, dass unsere Beziehung einen Brian Somerville
ausgehalten hätte, wären wir wirklich füreinander bestimmt gewesen? Es ist bedrückend und
faszinierend zugleich, sich vorzustellen, dass sich das Leben zweier Menschen, und damit das
ihrer späteren Partner und Kinder, aus einem Zufall heraus entschieden hat: Wären meine Mutter
und ich an jenem Novembermorgen 1940 etwas früher oder etwas später zum Bahnhof aufgebrochen,
wir wären Miss Taylor und Brian wahrscheinlich nicht begegnet. Und manches wäre anders
verlaufen. Vielleicht alles.
Den
Skandal von 1970, das Drama um Semira Newton, Polizei und Pressewirbel haben wir jedenfalls
besser als erwartet überstanden. Überraschenderweise machte mir überhaupt niemand Vorwürfe, weil ich ein Kind gewesen war, als die
entscheidenden Dinge passierten, und weil man mir abnahm, von Brians schrecklichem späterem
Schicksal nichts geahnt zu haben. Ich wurde kaum durch die Medien gezerrt, nur gelegentlich am
Rand erwähnt, meist nicht einmal mit vollem Namen. Und auch in deinem Fall bestand, ohne dass
du selbst etwas dazutun musstest, die Bereitschaft, die Geschehnisse deinen Eltern anzulasten
und nicht dir. Allgemein wurde angenommen, dein Vater allein habe Brian an Gordon McBright weitergereicht, und du hast dem nicht
widersprochen. Allerdings wohl nicht in erster Linie deshalb, um dich aus der Schusslinie zu
bringen und deinen Vater zu belasten: Du
hast es generell abgelehnt, mit irgendjemandem zu reden. Das lag aber nicht nur am Thema. Es
lag vor allem daran, dass du zu jenem Zeitpunkt ohnehin schon praktisch aus jeglicher
Kommunikation mit deiner Umwelt herausgetreten warst.
Der Fall sorgte für riesiges Aufsehen und jede Menge Wirbel. Das vergessene Kind titelten die Zeitungen oder Kind ohne Namen. Natürlich schlachtete die
Presse alles weidlich aus, aber dank unserer Jugend, auf die wir uns berufen konnten, was den
entscheidenden Zeitpunkt anging, kamen wir, wie gesagt, sehr glimpflich davon. In der
öffentlichen Meinung blieb die Verantwortung hauptsächlich an Arvid Beckett hängen, dem Mann, der Brian nie gewollt und kaum Anteil
an ihm genommen hatte. Ihr beide, du und er, habt das gemeinsam getan, und immerhin war
Arvid damals ein kranker, teilweise schon
verwirrter alter Mann gewesen, der die Tragweite dieses Schrittes wahrscheinlich gar nicht
verstand.
Doch wem hätte
es genutzt, mit diesem Wissen an die Öffentlichkeit zu gehen und uns beide und unsere Familien
in Schwierigkeiten zu bringen?
Ich kenne dich
nur zu gut, Chad, vielleicht besser als jeden anderen Menschen, dem ich im Laufe meines Lebens
begegnet bin, und ich weiß, dass du, falls du das alles überhaupt gelesen oder zumindest
überflogen hast, spätestens jetzt mit gerunzelter Stirn fragst: Ja und? Ich weiß immer noch
nicht, weshalb sie diese alten Geschichten noch mal aufs Tapet bringt ...
Ich bin nicht
sicher, ob dich meine Erklärung überzeugt, aber ich will es versuchen:
Ich habe dies
alles aufgeschrieben, weil ich mich der Wahrheit stellen wollte, und weil ich das in aller
Klarheit und Schonungslosigkeit nur tun kann, indem ich es aufschreibe. Gedanken brechen
plötzlich ab, fliegen davon, verlieren sich irgendwo, werden nicht zu Ende geführt. Beim
Schreiben aber gibt es keine Ausflüchte. Schreiben zwingt zur Konzentration und dazu, auch das
Unsagbare präzise zu formulieren. Man lässt keine halben Sätze stehen. Man vollendet sie, auch
wenn sich das Gehirn krümmt und windet und die Finger die Tastatur am liebsten nicht berühren
würden. Man möchte davonlaufen, aber man schreibt.
Das ist meine
Erfahrung.
Und warum ich
dir das alles geschickt habe?
Weil du Teil meiner Geschichte bist, Chad, und Teil meiner Wahrheit. Weil unser beider
Schicksal verwoben ist, miteinander und mit dem Schicksal Brian Somervilles. Wir drei sind in
dem Lebensweg, den wir gegangen sind, jeweils nicht denkbar ohne die beiden anderen. Auf eine
schöne, traurige, in jedem Fall besondere Art fühl e ich mich euch
verbunden. Ich hätte es daher
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