Das andere Kind
murmelte
ich.
Damals hat
halb London gebrannt, überall hatte man Ver letzte und Tote aus den Trümmern geholt. Es war kein Wunder, dass im Fall eines
Mehrfamilienhauses, dessen sämtliche Bewohner in dem Keller ums Leben gekommen waren, nicht
mehr im Einzelnen hatte festgestellt werden können, ob eigentlich alle sechs Kinder einer
Familie bei ihren Eltern gewesen waren. Ich konnte mich noch gut an die Worte der armen,
verstörten Miss Taylor an jenem Novembermorgen erinnern: »Sie haben sie ausgegraben ...
zumindest das, was von ihnen noch übrig war.«
Vielleicht hatte hier ein
Bein gelegen, dort ein Arm ... Wer hätte damals, inmitten des Infernos, das Nacht für Nacht
über die Stadt hereinbrach, die Zeit und Möglichkeit gehabt, umfangreiche pathologische
Untersuchungen anzustellen?
Offiziell, nun wusste ich es genau, war Brian Somerville seit fast sechs Jahren tot.
Nobody war wirklich zum Nobody geworden. Er existierte nicht mehr. Auf dem Notizblock einer
Rotkreuzschwester hatte es vor Jahren einen Vermerk über ihn gegeben, aber offensichtlich war
dieser auf dem Weg durch die Instanzen der Organisation verloren gegangen. Daher hatte niemand
nach Brian gefragt. Es würde auch nie mehr jemand tun. Es war geschehen, was heute, in unserer
perfekt vernetzten, computergesteuerten Welt undenkbar anmutet: Ein Mensch war aus allen
Systemen gerutscht. Es gab ihn körperlich, aber offiziell gab es ihn nicht. Weder erreichte ihn
die Schulpflicht, noch würde er jemals St euern bezahlen
müssen.
Er hatte keine Krankenversich erung und bekam keine Wahlbenachrichtigung.
Und er genoss
nicht den geringsten Schutz, den eine zivilisierte Gesellschaft ihre Mitgliedern
bietet.
Ich schlich
nach Hause und schrieb dir einen Brief, in dem ich dir erzählte, was ich herausgefunden hatte.
Ich weiß nicht, ob du dich an dieses Schreiben noch erinnerst, jedenfalls war es eines der
wenigen Male, wo du mir antwortetest - und sogar ziemlich bald. Ich vermute, du warst ziemlich
erleichtert, vom offiziellen »Ableben« Brians zu hören, denn nun konntest du sicher sein, dass
von behördlicher Seite keine Nachfragen zu erwarten waren. Solang ich die Klappe hielt, hattest
du nichts zu befürchten.
Du hast dich für meinen Brief bedankt und mich gebeten, mir keine Sorgen zu machen.
Schließlich wisse ich ja nicht, ob es Brian so schlecht ginge, wie ich in jenem ersten überhitzten Moment (an den Ausdruck
erinnere ich mich genau!) geglaubt hatte. Und ich solle mir doch auch einmal die Alternative
vorstellen: Ein Pflegeheim - und etwas anderes käme ja nicht in Frage - sei doch wahrlich auch
kein Zuckerschlecken für einen Jungen wie Nobody. Die Patienten dort würden, an ihre Betten
gefesselt, dahinvegetieren, hilflos in ihren Fäkalien liegen, mit kaltem Wasser abgespritzt
werden, wenn sie gesäubert würden ... Nicht selten komme es zu Misshandlungen und ungeklärten
Todesfällen ...
Du
maltest ein gruseliges Bild, wie es Charles Dickens nicht besser gekonnt hätte, und noch heute,
in der Rückschau, muss ich dir zugestehen, dass du aller Wahrscheinlichkeit nach mit diesen
Bildern auch nicht unrecht hattest: Die Pflegeheime für geistig behinderte Menschen in den
vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts waren nicht vergleichbar mit denen, die wir heute
haben, und selbst in unserer Zeit werden wir regelmäßig durch Skandale aufgeschreckt, die
irgendein Reporter dort aufdeckt, wohin Kranke und Alte abgeschoben werden.
Trotzdem ... ich bin fast achtzig Jahre alt,
Chad, und angesichts meines eigenen nahenden Todes - der so viel Zeit sich nun auch nicht mehr
lassen wird - mag ich mich selbst nicht mehr belügen und mir und anderen nichts mehr
vormachen.
Es war
nicht in Ordnung, was wir taten. Und seit dem Skandal, den Semira Newton Anfang der siebziger
Jahre auslöste, kannst eigentlich nicht einmal du mehr die Überzeugung hegen, der Weg, den wir
gegangen sind, könnte auch nur an einer einzigen Biegung der richtige gewesen sein.
Es war
ein Weg voll Grausamkeit, Verantwortungslosigkeit, Gewissenlosigkeit. Voll Selbstsucht und
Feigheit. Ja, vielleicht ist das die Eigenschaft, die uns beide am besten beschreibt: Wir waren
feige.
Einfach
nur feige.
Wie
ging es weiter? Ich tat, was ich zuvor weit von mir gewiesen hatte: Ich besuchte eine
Handelsschule, lernte Schreibmaschineschreiben und Stenografie, arbeitete später in
verschiedenen Londoner Büros. In dieser Zeit übrigens, das
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