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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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fällt mir gerade ein, erkundigte
    sich meine Mutter einmal nach Brian, völlig unvermittelt an einem Sonntagmorgen beim
    Frühstück.
    »Was
    ist eigentlich aus diesem anderen Kind geworden?«, fragte sie, und ich verschluckte mich vor
    Schreck an meinem Tee. »Du weißt schon, der kleine ... wie hießen die Leute? Somerville, wenn
    ich mich richtig erinnere? Der Junge, den du damals mitgenommen hast ... «
    »Der
    ist längst in einem Pflegeheim, Mum, schon seit Jahren«, erwiderte ich und tupfte mir mit der
    Serviette den verschütteten Tee vom Pullover. »Du weißt ja, er war ziemlich ... « Ich tippte
    mir vielsagend an die Stirn.
    »Ach
    so«, sagte Mum, und das war es. Sie erwähnte ihn nie wieder. Für sie war die Sache erledigt,
    die Frage war ihr ohnehin nur einmal kurz durch den Kopf geschossen. Sie hat sich nicht
    wirklich für die Antwort interessiert.
    Im
    August 1949 heiratete ich den ersten Freund, den ich nach dir gehabt hatte, Oliver Barnes,
    einen netten Geschichtsstudenten im letzten Semester, den ich während eines Aushilfsjobs in der
    Unibibliothek kennen gelernt hatte. Ich glaube schon, dass ich ein wenig verliebt in ihn war,
    echte Liebe war es mit Sicherheit nicht. Vielleicht ist man mit zwanzig Jahren auch gar nicht
    reif genug, dies auseinander halten zu können. Ich heiratete ihn, weil ich ihn nett fand und
    weil er mich anbetete. Er lebte noch bei seinen Eltern, hatte in deren geräumigem Haus aber
    eine eigene Souterrainwohnung, in die ich mit einziehen konnte. Somit entkam ich auch endlich
    den beengten Verhältnissen bei meiner Mutter und Harold. Sozial verbesserte ich mich jedenfalls
    gewaltig, was meiner Mutter ungeheuer imponierte. Sie mochte Oliver, und bis zu ihrem Ende
    lebte sie in der Überzeugung, ich hätte mit ihm die große Liebe meines Lebens gefunden. Ich
    ließ sie in dem Glauben, weshalb hätte ich ihr das Herz schwer machen sollen?
    Ich war
    knapp einundzwanzig, als meine Tochter Alicia geboren wurde. Und ich war achtundzwanzig, als
    meinem Mann, der inzwischen Assistent eines Geschichtsprofessors war, eine Stelle ausgerechnet
    an der Universität von Hull angeboten wurde.
    Zufall
    oder Fügung? Es verschlug mich schon wieder nach Yorkshire.
    Ich
    will dich nicht mit der Schilderung der folgenden Jahre langweilen.
    Das
    Fiasko in unser beider Leben war geschehen: An der entscheidenden Wegkreuzung war jeder in eine
    andere Richtung gegangen, und das ließ sich nicht revidieren. Ich empfand das und empfinde es
    bis heute als tragisch; ob es dir auch so ergeht, weiß ich nicht, mit dir ließ sich über derlei
    Dinge ja nie sprechen. Im Lauf der Jahre wurdest du immer eigenbrötlerischer, zogst dich mehr
    und mehr in dich selbst zurück. Ich war es, die den Kontakt hielt, die dich immer wieder
    aufsuchte, die dich aus der Reserve zu locken versuchte. Auch dann noch, als du im Alter von
    fünfundvierzig Jahren endlich geheiratet hast, eine zwanzig Jahre jüngere Frau, bei der man
    zuschauen konnte, wie sie unter deiner Unfähigkeit zu irgendeiner Art von Dialog langsam
    einging. Ich halte es für absolut folgerichtig, dass sie, obwohl so viel jünger als du, doch
    lange vor dir gestorben ist. Sie erinnerte mich immer an eine Blume, die kein Wasser bekommt,
    die langsam dahinwelkt und irgendwann einfach nicht mehr da ist.
    Gwen hat auch immer unter
    deiner Art gelitten, aber sie ist deine Tochter, sie kam auf die Welt und kannte vom ersten Tag
    an nichts anderes als einen Vater, der
    praktisch kein Wort spricht, der sich innerlich seiner Familie vollständig entzieht, der da ist
    und doch nicht da ist. Sie konnte die Mechanismen entwickeln, die es ihr möglich machten, in
    der Wüste zu überleben. Deine Frau war, obwohl jung an Jahren, dafür doch wieder zu alt. Sie
    rieb sich auf an dir. Sie starb schließlich an Kummer und Frustration. Der Tumor in ihrer Brust
    war nur körperlicher Ausdruck dieses Unglücks.
    Warum ich dir das
    so hart sage? Weil ich in dieser Frage auch hart mit mir selbst ins Gericht gegangen bin. Wie
    weit trage ich die Schuld daran, das s du deiner eigenen Familie
    so fern bliebst, so wenig Anteil an ihr nahmst, formal zwar
    zum
    Ehemann und Vater wurdest, aber
    eben nie wirklich?
    Ich hatte durchgesetzt, dass wir
    in Scarborough wohnten, obwohl Hull natürlich für Oliver viel günstiger gewesen wäre, aber wie
    üblich fügte er sich meinen Wünschen. Wir lebten damals noch nicht an der Prince-of-Wales-
    Terrace, sondern hatten ein wirklich

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