Das andere Kind
für Cal und Wotan, ihre Doggen - neben sich an
einen Baum gestellt, gleich hinter dem hohen, schwarzen schmiedeeisernen Zaun, der das Gelände
der Friarage Community Primary School umschloss. Ein recht großer Gebäudekomplex, mehrere ein- bis zweistöckige Häuser aus
rotem Backstein. Blaue Jalousien hinter den Fenstern. Links oberhalb der Schule erhob sich der
Hügel m it der Burg, davor die St. Mary's
Church, weithin bekannt vor allem deshalb, weil die Schriftstellerin Anne Bronte auf ihrem
Friedhofbegraben lag. Burg und Kirche schienen die Stadt, die Schule, die Kinder zu
beschützen.
Ein hübscher Ort, dachte
Jennifer.
Es waren die sechsten oder siebten Ferien,
die sie und ihr Mann Colin auf der Beckett-Farm in Staintondale verbrachten, und besonders
Jennifer hatte die Ostküste Yorkshires sehr lieb gewonnen. Die windumbrausten Hochebenen, die
sich mit weiten Tälern abwechselten, die endlosen Weideflächen, die von niedrigen steinernen
Mauern umgrenzt wurden, die schroffen Felsen, die jäh ins Meer hinabstürzten, die kleinen
sandigen Buchten, die sich an die Steilküste schmiegten. Sie liebte auch die Stadt Scarborough
mit ihren zwei großen, halbrunden Buchten, die von einer Landzunge geteilt wurden, mit ihrem
alten Hafen, mit den noblen Häusern hoch oben auf dem South Cliff, mit den vielen altmodischen
Hotels, deren Fassaden Wind und Salzwasser trotzen mussten und immer ein wenig abgeblättert
wirkten. Colin grummelte manchmal vor sich hin, dass es nett sein könnte, den Urlaub irgendwann
auch einmal anderswo zu verbringen, aber das hätte bedeutet, Cal und Wotan in eine Tierpension
geben zu müssen, undenkbar für die hochsensiblen Tiere. Zum Glück war es ursprünglich Colins
Idee gewesen, Hunde ins Haus zu holen, und zwar ausdrücklich besonders große Hunde, darauf
konnte sich Jennifer nun immer berufen, wenn er jammerte. Es war Colin vor allem um den
täglichen Zwang zu mehrstündigen Spaziergängen gegangen. »Ein Wundermittel gegen Depressionen«,
hatte er gesagt, »und zusätzlich in jeder Hinsicht gesund. Und irgendwann wirst du auf die
Bewegung an der frischen Luft gar nicht mehr verzichten können.«
Er hatte recht gehabt. Die Hunde und das
Laufen hatten ihr Leben verändert. Sie hatten ihr aus dem Tal nach oben geholfen, sie
vielleicht nicht zu einer wirklich glücklichen Frau gemacht, aber zu einer, die wieder einen
Sinn in ihrem Dasein sah.
Sie hatte die Tiere von einem Verein
bekommen, der über das Internet versuchte, in Not geratene Doggen an neue Besitzer zu
vermitteln. Cal hatte man als einjährigen Hund angebunden am Rand einer Landstraße gefunden,
und Wotan war von seinen Besitzern ins Tierasyl gebracht worden, nachdem diesen mit einiger
Verspätung klar geworden war, dass das Leben mit einem so großen Hund in der achten Etage eines
Hochhauses alles andere als einfach war.
Das Schlimmste ist immer wieder die
Dummheit der Menschen, dachte Jennifer oft, fast schlimmer als die vorsätzliche Grausamkeit,
denn die Dummheit ist so viel weiter verbreitet. Dummheit und Gedankenlosigkeit. Darunter
leidet die Welt. Und am meisten die Tiere.
Heute hatte sie die
Hunde bei Colin auf der Farm gelassen und war mit Gwen in die Stadt gefahren. Gwen hatte drei
Monate lang an einem Kurs zur Überwindung ihrer Schüchternheit teilgenommen, dessen letzte
Stunde am vergangenen Mittwoch stattgefunden hatte, und an diesem Freitagnachmittag nun
veranstaltete die Kursleiterin eine kleine Abschiedsfeier. Jennifer hatte sich gehütet, einen
Kommentar zu dem Kurs abzugeben. Sie glaubte nicht an derlei Geschichten. In drei Monaten
sollten Menschen, deren Verhalten sich über Jahrzehnte eingeschliffen hatte, trainiert werden,
sich völlig zu verändern und ihr Leben neu in die Hand zu nehmen? Ihrer Ansicht nach wurde bei
Angeboten dieser Art Geschäf temacherei mit den echten Pro blemen und Nöten oftmals sehr verzweifelter Menschen betrieben, die bereit
waren, nach jedem Strohhalm zu greifen und dafür auch noch eine Menge Geld hinzublättern. Gwen
hatte zugegeben, ihr gesamtes Erspartes aufgewendet zu haben, aber Jennifer hatte nicht den
Eindruck, dass sie tatsächlich großartig profitiert hatte. Natürlich, sie war verändert, aber
das lag nicht an dem Hokuspokus, den man mit ihr an den Mittwochnachmittagen veranstaltet
hatte, jedenfalls war das Jennifers Überzeugung. Vielmehr lag es an der völlig überraschenden
Wendung, die ihr Privatleben genommen
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