Das andere Kind
die Landschaft unter dem
weißen Licht eines blassen Mondes war hügelig und karg. Weidezäune und steinerne Mauern
wechselten einander ab, gelegentlich schälte sich die Gestalt einer Kuh oder eines Schafes aus
der Nacht. Es war spät für ein Abendessen, aber Dave hatte einen Spanischkurs halten müssen und
war erst nach acht Uhr aus Scarborough weggekommen.
Wenigstens hatte er endlich eine
Eingebung, wohin sie gehen könnten, in eine ziemlich schlichte Kneipe in der Gegend von Whitby.
Nicht gerade romantisch, dafür aber billig und garantiert nicht von Leuten frequentiert, auf
deren Meinung er Wert legte. Er hatte bereits festgestellt, dass Gwen völlig anspruchslos war
und sich nie beschwerte; er hätte ihr ein Candlelight Dinner versprechen und sie dann zu
Kentucky Fried Chicken mitnehmen können, sie hätte auch das anstandslos hingenommen. Der
einzige Mann in ihrem Leben war bislang ihr Vater gewesen, und obwohl sie an ihm in einer
Mischung aus Liebe, Treue und Fürsorglichkeit hing, gab sie sich doch, wie Dave herausgefunden
hatte, keinerlei Illusion darüber hin, dass ihrer beider gleichförmiges und perspektivloses
Dasein auf einer abgelegenen und ziemlich heruntergekommenen Farm in Staintondale weder ein
gesundes noch ein erfüllendes Leben darstellte. Sie war voller Dankbarkeit dafür, dass Dave so
unerwartet in ihrem ereignislosen Alltag aufgekreuzt war, und Tag und Nacht quälte sie die
Angst, sie könne ihn wieder verlieren. Sie gab sich große Mühe, ihn weder durch Klagen noch
durch Forderungen oder gar Streitereien zu verärgern.
Ich bin ein Schuft, dachte er, ein
richtiger Schuft, aber für den Augenblick mache ich sie wenigstens glücklich. Und er würde sie
nicht verletzen. Er würde die Sache durchziehen. Er hatte es sich vorgenommen, und es gab keine
Alternative.
Gwen Beckett war seine letzte
Chance.
Und ich bin ihre, dachte er, und nur
mit einiger Mühe drängte er die in ihm aufkeimende Panik zurück. Den Rest seines Lebens würde
er mit diesem späten Mädchen an seiner Seite verbringen. Das konnten noch vierzig oder gar
fünfzig Jahre sein.
Er dachte oft über sie nach. Manches
aus ihrem Leben hatte sie ihm erzählt, manches reimte er sich selbst zusammen. Ihr Vater hatte
sich ihr gegenüber offenbar stets sehr nachgiebig gezeigt; ein Verhalten, das sie ihm als Liebe
auslegte, wobei Dave jedoch manchmal dachte, dass es auch Gleichgültigkeit sein konnte, die
darin zum Ausdruck kam. Mit sechzehn Jahren war sie von der Schule abgegangen, weil es ihr
»dort keinen Spaß mehr gemacht hatte«, wie sie sagte, und nicht einmal in dieser Situation
hatte Daddy Einspruch erhoben. Gwen hatte nie einen Beruf erlernt, sondern ihre Lebensaufgabe
darin gesehen, ihrem verwitweten Vater den Haushalt zu rühren und die Familienkasse
aufzubessern, indem sie zwei Zimmer im Wohnhaus der Farm zu Gästeräumen umfunktionierte, um ein
Bed & Breakfast aufzuziehen. Das kleine Unternehmen dümpelte ziemlich erfolglos dahin, was
Dave nicht verwunderte. Das alte, verwohnte Haus hätte dringend modernisiert werden müssen, um
Menschen anzuziehen, die ihre Ferien an der Ostküste Nord-Yorkshires verbringen wollten. Nach
einigen schwächeren Jahrzehnten war die Region als Urlaubsziel wieder sehr im Kommen, aber die
Leute wollten heute ein anständiges Badezimmer, eine Dusche, deren Heißwasserboiler nicht nach
wenigen Minuten bereits leer war, hübsches, sauberes Geschirr zum Frühstück und einen
einigermaßen ansprechenden ersten Eindruck, wenn sie auf das Domizil zurollten, in dem sie ihre
kostbarsten Wochen des Jahres verbringen wollten. Der mit Unkraut überwucherte, mit
Schlammlöchern verzierte Hof der Beckett-Farm lud kaum zum Verweilen ein. Tatsächlich schien es
überhaupt nur ein Paar zu geben, das regelmäßig seinen Urlaub hier verbrachte, und das
hauptsächlich deshalb, weil es, wie Gwen berichtet hatte, zwei riesige Doggen mit sich führte,
die nirgendwo sonst akzeptiert worden wären. Wer ist diese Gwen Beckett?, fragte er sich
mehrmals am Tag, vielleicht zu oft.
Sie war sehr schüchtern, aber er hatte
den Eindruck, dies resultierte vor allem aus dem Umstand, dass sie ein so zurückgezogenes Leben
führte und den Umgang mit anderen Menschen weitgehend verlernt hatte. Sie sprach mit Wärme und
Bewunderung von ihrem Vater, und vermittelte manchmal den Eindruck, es könne nichts Schöneres
für sie geben, als mit ihm gemeinsam in der Abgeschiedenheit von
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