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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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hatte. Ein Mann. Ein Mann, der sich in sie verliebt
    hatte.
    Morgen sollte die Verlobung gefeiert
    werden. Jennifer hatte es kaum glauben wollen. Aber da Gwen ihn hier, in dieser Schule, kennen
    gelernt hatte, musste sie zumindest zugeben, dass sowohl die Teilnahme an dem Kurs als auch das
    Opfern der Ersparnisse nicht ganz umsonst gewesen waren.
    Gwen würde heiraten! Für Jennifer,
    die zwar nur zehn Jahre älter war als die Freundin, aber sich dennoch immer ein wenig als deren
    Mutter fühlte, war das eine Sensation, ein Geschenk, eine wunderbare Fügung gewesen. Und doch
    zugleich etwas, das sie mit Unruhe erfüllte: Wer war dieser Mann? Weshalb hatte er Gwen
    gewählt, die liebenswert und fürsorglich war, aber bislang noch nie ein männliches Wesen hinter
    dem Ofen hatte hervorlocken können? Sie war so altmodisch. So weltfremd. Konnte immer nur von
    ihrem Vater reden, Daddy hier und Daddy da, und welchen Mann machte das nicht auf die Dauer
    verrückt?
    Jennifer wollte
    sich mit Gwen freuen, von ganzem Herzen, und konnte es nicht. Sie hatte am Vortag einen Blick
    auf Dave Tanner erhascht, als er zur Farm gekommen war, um Gwen zu einem Rendezvous abzuholen, und seitdem war sie noch
    beunruhigter. Nach dem Auto zu schließen, das Tanner fuhr, hatte er kaum Geld, wie sollte er
    auch, brachte er sich doch leidlich mit Französisch- und Spanischunterricht durch und wohnte
    zur Untermiete in einem möblierten Zimmer - das ließ kaum auf verborgene Reichtümer schließen.
    Aber er sah sehr gut aus und besaß ein weltgewandtes Auftreten, das war ihr sogar in den
    wenigen Momenten aufgefallen, da sie ihn aus dem Fenster ihres Zimmers hatte beobachten können.
    Er konnte sicher ganz andere Frauen haben als Gwen, das war Jennifer sofort klar gewesen,
    jüngere, hübschere und gewandtere. Trotz seiner finanziellen Notlage.
    Aber genau darin, in seiner so
    offensichtlich katastrophalen existenziellen Situation, mochte der Grund für seine Romanze mit
    Gwen liegen, und diese Vorstellung hatte Jennifer in der vergangenen Nacht nicht schlafen
    lassen.
    Aber sie hatte nichts gesagt.
    Jedenfalls nicht zu Gwen. Mit Colin hatte sie über ihre Befürchtungen gesprochen, und er hatte
    sie eindringlich gewarnt, sich einzumischen. »Sie ist erwachsen! Sie ist fünfunddreißig Jahre
    alt. Es wird Zeit, dass sie allein über ihr Leben entscheidet. Du kannst sie nicht immer
    beschützen!«
    Ja, dachte Jennifer nun,
    während sie die friedlich in der Nachmittagssonne des stillen Oktobertages vor ihr liegende
    Schule betrachtete, er hat recht. Ich muss aufhören, Gwen Beckett vor allem Unglück bewahren zu
    wollen. Sie ist nicht meine Tochter. Sie ist nicht einmal mit mir verwandt. Und selbst wenn sie
    es wäre - sie hat ein Alter erreicht, in dem sie frei bestimmen muss, wohin ihr weiterer Weg
    sie fuhren soll.
    Die Tür des vorderen Gebäudes
    öffnete sich. Die Leute, die herauskamen, mussten zu dem Kurs gehören, an dem Gwen teilgenommen
    hatte. Jennifer versuchte, sich gegen alle Vorurteile zu wappnen, die in ihr erwachen mochten,
    und auch gegen eine unangemessene Neugier. Wie sahen Menschen aus, die in einer derartigen
    Veranstaltung die vielleicht letzte Chance für eine Veränderung in ihrem Leben sahen? Waren sie
    wie Gwen - etwas altbacken, zurückhaltend, schnell errötend und eigentlich liebenswert? Oder
    auf unangenehme Art verklemmt, verbiestert, total frustriert? Aggressiv? Hässlich, dass es
    einem den Atem verschlug? Sie sahen ziemlich normal aus, stellte Jennifer fest. Sehr viel mehr
    Frauen als Männer. Zwei Männer überhaupt nur, genau genommen. Die Frauen trugen Jeans und
    Pullover, leichte Jacken, weil der Tag nicht kalt war. Einige waren recht hübsch. Allerdings
    befand sich keine darunter, die von auffallender Schönheit gewesen wäre, ebenso gab es
    niemanden in einer grellen oder provozierenden Aufmachung. Insgesamt tatsächlich eher
    zurückhaltende Menschen, die nicht in den Mittelpunkt drängten. Die aber keineswegs gestört,
    seltsam oder gar abstoßend wirkten.
    Jennifer lächelte, als sie Gwen
    erblickte. Ein geblümter, wadenlanger Rock, wie immer. Klobige Stiefel. Und woher hatte sie nur
    diesen fürchterlichen Mantel? Ob ihr Verlobter ihr den hoffentlich irgendwann einmal würde
    ausreden können?
    Gwen trat heran, begleitet von
    einem Mann und einer Frau, die beide zwischen dreißig und vierzig Jahre alt sein mochten. Die
    Frau wirkte auf den ersten Blick ziemlich unscheinbar, auf den zweiten jedoch

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