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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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hatte sie das Gefühl, schon zu lange damit
    gewartet zu haben und nun nie wieder den Mut aufzubringen. Im Übrigen fand sie, dass sie
    schließlich ein halbwegs normales Leben führte. Sie traute sich nicht mehr hinter das Steuer
    eines Autos, und sie war etwas menschenscheu und misstrauisch, aber sie war nicht einsam. Sie
    hatte Colin und die Hunde. Die Ferien bei Chad und Gwen. Sie war zufrieden. Sie hatte ihre
    Depressionen im Griff. Wenn diese trotzdem gelegentlich aufflackerten, schluckte sie eine
    Tablette, aber das kam höchstens einmal in der Woche vor. Sie war weit entfernt von einer
    Medikamentenabhängigkeit, wie man sie ihr damals hatte unterstellen wollen.
    Aber daran durfte
    sie gar nicht denken. An all den Dreck, den man über ihr ausgeschüttet hatte. Das war lange
    vorbei. Eine andere Zeit, ein anderes Leben. Sie hatte einen neuen Platz für sich
    gefunden.
    Es musste ihr nur
    noch gelingen, den alten ganz und gar loszulassen. Ihn nicht länger zu verklären oder mit
    Sehnsucht an ihn zu denken. Das funktionierte nicht von heute auf morgen, wie sie leidvoll
    festgestellt hatte, aber irgendwann würde sie so weit sein.
    Und dann würde
    alles besser werden.
    »Is' Besuch in
    Ihrem Zimmer«, sagte Mrs. Willerton, die Wirtin, kaum dass Dave die Haustür aufgeschlossen
    hatte und in den engen Flur getreten war, dessen Wände überladen waren mit kitschigen
    Tierzeichnungen. »Miss Ward. Ihre ... na ja ... ist sie nun Ihre Exfreundin oder
    nicht?«
    »Ich habe Ihnen
    doch gesagt, Sie sollen in meiner Abwesenheit niemanden in mein Zimmer lassen«, entgegnete Dave
    ärgerlich und stieg, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die steile Treppe hinauf, ehe Mrs.
    Willerton weitere Fragen stellen konnte. Es war das Allerletzte, zur Untermiete wohnen und
    ständig an der neugierigen Wirtin vorbeizumüssen. Mrs. Willerton hegte ein extremes Interesse
    an seinem, Daves, Liebesleben, wahrscheinlich deshalb, vermutete er, weil ihr eigenes viele
    Jahrzehnte zurücklag. Mr. Willerton hatte sich, wie sie ihm einmal verschämt anvertraut hatte,
    schon vor zwanzig Jahren mit einer Motorradbraut aus einem Harley-Davidson-Fanclub auf und
    davon gemacht. Dave konnte ihn nur zu gut verstehen.
    Er war müde. Er
    hatte zwei Stunden lang Französischunterricht gegeben, hatte die schauderhafte Aussprache
    ertragen müssen, mit der ein Dutzend Hausfrauen mittleren Alters aus Nord-Yorkshire eine
    Sprache malträtierten, die er selbst wegen ihres Klanges und ihrer Melodie liebte. Mehr und
    mehr sehnte er sich danach, mit alldem aufhören zu können. Sein Leben war allzu anstrengend im
    Moment, kompliziert und verrückt und von dem ständigen Grübeln darüber belastet, ob er nicht im
    Begriff war, einen gewaltigen Fehler zu machen. Karen Ward, die einundzwanzigjährige Studentin,
    mit der er eineinhalb Jahre lang eine Beziehung gehabt hatte, war der letzte Mensch, den er
    heute Abend noch gebraucht hätte.
    Er trat in sein
    Zimmer. Wie üblich hatte er es ziemlich unordentlich hinterlassen, das Bett war nicht gemacht,
    ein paar seiner Klamotten lagen achtlos hingeworfen über einem Stuhl. Auf dem Tisch am Fenster
    standen die Reste seines Mittagessens, eine Pappschachtel mit den Überbleibseln eines
    Reisgerichts aus einem pakistanischen Take-away. Daneben eine halb volle, nachlässige verkorkte
    Flasche Weißwein. Dass er schon mittags manchmal Alkohol trank, hatte Karen immer aufgeregt.
    Wenigstens diese Diskussionen würde es in Zukunft nicht mehr geben.
    Karen saß auf einem kleinen Hocker am Fußende des Bettes. Sie trug einen dunkelgrünen
    Rollkragenpullover, und ihre schönen, langen Beine steckten in sehr engen Jeans. Die
    hellblonden Haare fielen lässig zerzaust über ihre Schultern. Dave kannte sie lange genug, um
    zu wissen, dass sie morgens viel Zeit benötigte, um dieses
    unpräten tiöse Aussehen hinzubekommen. Nicht eine Strähne, die nicht
    so saß, wie sie es wollte. Auch ihr Make-up, das aussah, als trüge sie gar keines, war das
    Ergebnis harter Arbeit.
    Sie hatte ihn
    einmal sehr fasziniert. Aber viel mehr war es nie gewesen: Bewunderung für ihr gutes Aussehen.
    Offensichtlich reichte dies nicht als Grundlage für eine wirklich lange Beziehung.
    Außerdem war
    sie einfach zu jung.
    Er schloss
    die Tür hinter sich. Jede Wette, dass die Willerton unten im Flur stand und die Ohren spitzte.
    »Hallo, Karen«, sagte er, möglichst leichthin. Sie war aufgestanden, offenbar in der Erwartung,
    er werde auf sie

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