Das andere Kind
wieder einmal frustriert, unzufrieden. Rückte nicht recht mit der Sprache heraus,
was ihm die Laune verhagelt hatte - aber offenbar hing es mit dem Streit zusammen, den Sie
erwähnt haben. Auf jeden Fall sollte ich wieder nur als Ablenkung dienen. Mit ihm in die Kiste
springen und ihm ein paar schöne Stunden bereiten. Und am nächsten Morgen wäre er aufgestanden
und verschwunden und hätte sich tagelang überhaupt nicht mehr an mich erinnert. So lief es seit
Juli. Und ich mochte mich dafür nicht mehr hergeben.«
Reek
hielt den Atem an. »Das heißt, Sie ... ?«
Er
beendete seine Frage nicht, aber Karen verstand ihn. »Ja. Das heißt, dass ich ein Glas Wein mit
ihm trank, über irgendwelche Lappalien mit ihm redete, seinen Annäherungsversuchen widerstand
und ihm dann erklärte, dass ich müde sei und nach Hause wolle. Allein.«
»Er kam
also nicht mit zu Ihnen?«
»Nein.
Ich wollte es nicht. Ich lehnte sogar sein Angebot ab, mich nach Hause zu fahren. Ich kenne
seinen Charme nur zu gut. Ich wusste nicht, ob ich es schaffen würde, konsequent zu
bleiben.«
»Wissen
Sie, was Sie da sagen? Sie erklären mir also, dass Mr. Tanner der Polizei gegenüber gelogen
hat, was seine Angaben, Samstagnacht betreffend, angeht. Und weiter bedeutet Ihre Aussage, dass
Mr. Tanner nun für den Zeitpunkt des Verbrechens an Mrs. Barnes kein Alibi mehr
hat.«
Sie blieb
ruhig. »Kann sein. Ich sage Ihnen jedenfalls, wie es war.«
»Es
könnte passieren, dass Sie Ihre Aussage beeiden müssen.«
Sie
lächelte ein wenig. »Meine Aussage ist kein Racheakt an einem Mann, der mich verlassen hat,
Sergeant Reek. Es ist einfach die Wahrheit. Ich hätte kein Problem, sie zu beeiden.«
Reek
schob seinen Notizblock und den Stift wieder in die Innentasche seines Jacketts. »Ich danke
Ihnen für das Gespräch, Miss Ward. Sie haben uns sehr geholfen.«
Sie
blickte ihn traurig an. Reek dachte, wie trostlos sie sich fühlen musste: einen Haufen Anrufe
von Tanner auf dem Handy, was vielleicht, bei aller Entschlossenheit, dieses Kapitel zu
beenden, einen Funken Hoffnung in ihr entzündet haben mochte. Hoffnung auf einen Neuanfang, auf
eine Veränderung im Verhalten des Mannes, den sie liebte. Um nun festzustellen, dass er sie nur
einmal mehr hatte benutzen wollen, diesmal um sich der Polizei gegenüber abzusichern. Seit
seiner Vernehmung durch Valerie Almond telefonierte Tanner offenbar wild hinter seiner
Exfreundin her, um seine Aussage mit ihr abzusprechen und sie auf Kurs zu bringen. Pech gehabt,
dachte Reek mit einer gewissen Schadenfreude. Pech, mein Freund, dass sie gerade jetzt
beschlossen hat, auszuscheren. Du sitzt ganz schön in der Klemme! »Auf Wiedersehen, Miss Ward«,
sagte er, und nach kurzem Zögern fügte er hinzu:
»Erlauben
Sie mir bitte eine persönliche Bemerkung: Trauern Sie Tanner nicht nach. Er ist es nicht
wer«
»Ich muss
meinen Chef anrufen«, sagte Ena Witty, »ich will mir heute noch einmal frei nehmen, weil ich
mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren kann.«
Valerie
nickte mitfühlend. Sie stand in Ena Wittys kleinem, sehr behaglich eingerichteten Wohnzimmer
und hatte gerade das Angebot einer Tasse Kaffee abgelehnt. Sie hatte genug von dem Zeug in sich
hineingeschüttet, schwarz, heiß und viel zu stark. Ihr Herz hämmerte zu schnell und fast zu
laut, wie es ihr schien. Aber vielleicht strömte auch nur das Adrenalin in gewaltigen Mengen
durch ihren Körper. Sie hätte vor Ruhelosigkeit am liebsten mit den Armen geflattert wie ein
Vogel mit seinen Flügeln.
Zu ihrer Überraschung war es jedoch Jennifer Brankley gewesen, die ihr die Tür geöffnet hatte,
eine etwas zerknautscht wirkende Jennifer mit unordentlichen Haaren und unausgeschlafenem
Gesicht. »Sind Sie schon da oder noch?«, hatte Valerie gefragt. Seltsam, dass es
ihr nicht gelang, eine gewisse Abneigung gegen die Brankley zu unterdrücken.
»Noch«,
antwortete Jennifer. »Es ging Ena sehr schlecht gestern Abend, und sie war ganz verzweifelt bei
der Vorstellung, hier allein schlafen zu müssen. Also habe ich meinen Mann angerufen, habe ihm
alles erklärt und bin hier geblieben. Allerdings wird Gwen Beckett mich jetzt jeden Moment
abholen. Sie wollte ein paar Einkäufe erledigen und nimmt mich dann mit zurück zur
Farm.«
»Hat
sich Mr. Gibson gestern Abend oder heute Nacht hier gemeldet?«
»Nein.«
Im
Wohnzimmer saß die blasse Ena am Tisch, vor sich einen Marmeladetoast, den sie offenbar
Weitere Kostenlose Bücher