Das andere Kind
bemerkte sie Gwen Beckett, die soeben auf der
gegenüberliegenden Seite aus einem Auto ausstieg. Sie trug einen warmen Anorak und hatte den
obligatorischen blonden Zopf diesmal zu einem Knoten aufgesteckt. Sie hatte die Polizistin
nicht gesehen. Nach einer Sekunde des Zögerns überquerte Valerie die Straße und trat auf
sie zu.
»Guten Morgen, Miss Beckett. Sie holen sicher Mrs. Brankley ab, nicht wahr?«
Gwen schrak zusammen. »Qh ... ich habe Sie nicht kommen hören ... Guten Morgen.« Wie üblich,
wenn sie unerwartet angesprochen wurde, errötete sie.
Armes Ding, dachte Valerie. »Sie sind früh unterwegs.«
»Ja. Wie Sie schon sagten, ich möchte Jennifer abholen.
Eine verrückte Geschichte, oder? Ich konnte es kaum glauben, als Colin mir alles erzählte.«
»Ich war gerade oben. Ich glaube, Miss Witty ist einigermaßen stabil und kann jetzt allein
bleiben.«
»Wie gut«, meinte Gwen. Sie wirkte etwas unschlüssig. Sie sperrte das Auto ab, schob den
Schlüssel in die Handtasche. »Ich habe mich tatsächlich mit dem Auto hierher getraut«, sagte
sie dann, und es klang fast entschuldigend. »Ich fahre nicht so gern, wissen Sie, aber ich
wollte Jennifer unbedingt abholen. Der Bus geht so selten ... Außerdem kann ich ein paar
Einkäufe machen. Colin hat mir seinen Wagen geliehen. Ich kann besser mit ihm einparken als mit
dem meines Vaters.«
»Colin ... Mr. Brankley ist auf der Farm?« »Jennifer wollte, dass er bei den Hunden bleibt. Sie
macht sich immer Sorgen um die beiden.«
»Sie sieht sie ja bald wieder. Hören Sie«, Valerie beschloss, die Gelegenheit beim Schopf zu
ergreifen, »da ich Sie schon mal hier habe ... Sie kannten Stan Gibson?«
»Eher flüchtig.«
»Wie gut genau?«
Gwen überlegte. »Nicht besonders gut. Er gehörte zu der Baufirma, die in
der Schule Umbauten durchführte, und er machte sich immer vor dem Raum zu schaffen, in dem wir
unseren Kurs abhielten. Es war ziemlich klar, dass er es auf Ena Witty abgesehen hatte. Die
beiden kamen ja dann auch recht schnell zusammen. Manchmal sind wir nach der Stunde zu dritt
noch ein Stück gelaufen ... ich zur Bushaltestelle, Stan und Ena in die Stadt. Das waren
eigentlich die einzigen Gelegenheiten für mich, ihn ein bisschen kennenzulernen - falls man das
als Kennenlernen bezeichnen
kann.«
»Welchen Eindruck hatten Sie von ihm?«
»Er war ... ja, er war offensichtlich sehr an Ena interessiert. Er war charmant und aufmerksam.
Einmal brachte er ihr eine rote Rose mit, als er sie abholte. Aber er war auch ... «
»Ja?«, fragte Valerie, als Gwen stockte.
»Er war sehr bestimmend«, sagte Gwen. »Nett, freundlich, aber irgendwie ließ er nie einen
Zweifel daran, dass alles so zu geschehen hat, wie er es möchte. Er hatte immer schon den Abend
verplant oder das Wochenende, und nie fragte er, ob Ena nicht vielleicht andere Wünsche hatte.
Man hatte das Gefühl, er könnte ziemlich heftig reagieren, wenn man ihm
widerspräche.«
»Woran haben Sie das erkannt?«
»Ich weiß nicht. .. ich hatte eben so ein Gefühl.«
»Hat Ena Witty ihm in Ihrer Gegenwart einmal widersprochen?«
»Nein. Aber sie wirkte oft gar nicht glücklich. Ein- oder zweimal habe ich
auch mitbekommen, dass er sehr gegen ihre Teilnahme an dem Kurs hetzte. Er meinte, das sei doch
alles Blödsinn, und weshalb sie denn unbedingt selbstbewusster werden wolle. Er machte
irgendeine abfällige Bemerkung in der Art, bei so etwas kämen am Ende nur hirnverbrannte
Emanzen heraus ... oder etwas Ähnliches. Und er amüsierte sich auf eine fast verletzende Art über die Rollenspiele, von denen Ena
ihm wohl erzählt hatte.« »Rollenspiele?«, fragte Valerie irritiert.
Gwen wand sich. Das ganze Thema schien ihr peinlich zu sein. »Na ja ... wir übten den Umgang
mit kritischen Situationen. In Rollenspielen eben.«
»Und was verstand man in dem Kurs unter kritischen Situationen?«
»Situationen, die ... nun, alles das, was Menschen wie uns schwerfällt. Allein auf eine Party
gehen. Allein ein Restaurant besuchen. Einen Fremden ansprechen. Sich im Laden von einer
Verkäuferin beraten lassen und am Schluss trotzdem nichts kaufen. Solche Dinge eben. Ihnen
kommt das sicher lächerlich vor, aber ... «
Valerie schüttelte den Kop£ »Absolut nicht. Im Gegenteil. Was meinen Sie, wie oft ich schon
Dinge gekauft habe, die ich eigentlich gar nicht wirklich wollte, nur weil ich nicht wusste,
wie ich mich der Verkäuferin entziehen sollte. :Mehr oder
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