Das andere Kind
verhindern.« Valerie
fühlte sich plötzlich sehr erschöpft und ahnte, dass sie auch so aussah. »Ein nicht offiziell
abgeschlossener Fall. Nicht sehr befriedigend.«
Und nicht sehr karrierefördernd, fugte sie in Gedanken hinzu und schämte sich gleich darauf
»Manchmal ist das eben so«, meinte Reek. Er merkte, wie deprimiert seine Chefin war.
»Inspector, immerhin, was Fiona Barnes betrifft, hätte uns auch eine Überführung Stan Gibsons
nicht weiterhelfen können. Das heißt, wir müssen uns zumindest keine Gedanken darum machen, ob
wir einen ein- oder zweifachen Mörder gerade wieder nach Hause geschickt haben.«
»Jedenfalls nicht, was Barnes angeht«, sagte Valerie, »denn ob Gibson vielleicht noch einen
Mord mehr oder die eine oder andere Vergewaltigung auf dem Gewissen hat, werden wir aller
Wahrscheinlichkeit nach nie herausfinden. Und im Fall Barnes tappen wir so sehr im Dunkeln wie
am Anfang - was ich nicht als besonders beruhigend empfinde. Von Tanner noch immer keine
Spur?«
Sie hatten sich am Morgen fast gleichzeitig vor dem Haus in der Friargate Road getroffen. Um
von der Wirtin zu erfahren, dass sie Dave Tanner noch am Vorabend auf die Straße gesetzt
hatte.
»Keine Sekunde länger hätte ich einen Mörder in meinem Haus haben wollen!«, hatte sie
gekreischt, noch immer oder schon wieder am Rand der Hysterie. »Ich habe ihn rausgeworfen. Mit
Sack und Pack. Ich habe keine Lust, die Nächste zu sein, verstehen Sie?«
»Es ist fast sicher, dass er mit dem Verbrechen an Amy Mills nichts zu tun hat«, hatte Valerie
erklärt, »und im Fall Barnes gibt es keinerlei Beweise für seine Täterschaft.«
»Aber er hat sich doch Samstagnacht von hier fortgeschlichen, wie wir jetzt wissen«, hatte Mrs.
Willerton aufgetrumpft, »und das, nachdem er zuvor etwas ganz anderes behauptet
hat!«
Ja, und leider waren das noch nicht alle seine Lügen, hatte Valerie gedacht, dies aber
natürlich nicht mit der aufgebrachten Mrs. Willerton besprochen.
»Haben Sie eine Vorstellung, wohin er gegangen sein könnte?«, hatte sie gefragt. »Ich meine, er
braucht ja irgendein Dach über dem Kopf.«
»Keine Ahnung. Zu seiner Verlobten, schätze ich, wenn die ihn noch haben
will. Man fühlt sich ja seines Lebens nicht sicher mit so einem Typ. Wenn ich mir vorstelle, in
welc her Gefahr ich geschwebt habe . .
«
Auf der Beckett-Farm, wo sie es als Nächstes versucht hatten, war er ebenfalls nicht
anzutreffen gewesen. Dass Karen Ward ihn aufnahm, stand nach allem, was Reck am frühen Morgen
erfahren hatte, nicht zu erwarten.
»Noch immer keine Spur«, sagte Reek nun. »Ich habe einen Beamten an der Friarage School
postiert. Tanner müsste dort heute ab sechs Uhr einen Kurs in Spanisch abhalten. Aber irgendwie
habe ich die Ahnung, dass er nicht erscheinen wird. Vielleicht sollten wir doch die Fahndung
rausgeben?«
»Er ist nicht auf der Flucht. Er ist bei seiner Wirtin rausgeflogen, hat sich zwangsläufig eine
neue Unterkunft gesucht und hat keine Ahnung, dass wir ihn suchen«, meinte Valerie.
»Er hat uns hinsichtlich seines Aufenthalts in der Tatnacht belogen«, gab Reek zu bedenken,
»und zwar gleich zweimal.«
Valerie schaute auf die Uhr. »Es ist Viertel nach fünf. Wir warten noch eine Stunde. Wenn er
bis dahin nicht bei seinem Spanischkurs aufgetaucht ist, machen wir ernst.«
Sie sahen einander an.
»Von da an läuft die Fahndung nach Dave Tanner«, sagte Valerie.
Wie Leslie erwartet hatte, war es kein Problem gewesen, in Robin Hood's Bay das Haus zu finden,
in dem Semira Newton lebte. Sie hatte in einem Andenkenladen nachgefragt, und die Verkäuferin
hatte sofort genickt. »Klar kenne ich Semira. Ihr gehört der kleine Töpferladen, ganz unten an
der Straße. Sie können ihn gar nicht verfehlen.«
Leslie war die steile Dorfstraße hinuntergewandert. Robin Hood's Bay klebte an einem Steilhang
und zog sich bis fast hinunter zur Bucht. Das Dorf, obwohl inzwischen sehr touristisch geprägt
und mit vielen Geschäften und Lädchen durchsetzt, hatte dennoch seinen ursprünglichen Charme
bewahrt. Kleine, niedrige Häuser, Kopfsteinpflaster, ein Bach, der durch den Ort in Richtung
Meer plätscherte. Winzige Gärtchen, in denen die letzten Blumen des Jahres blühten. Kleine
Terrassen, auf denen lackierte Stühle und Tische dicht zusammengerückt standen und von
lauschigen Sommerabenden unter freiem Himmel erzählten. Über allem der Geruch nach Salz und
Algen, der vom Wasser
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