Das andere Kind
aus ihm?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nicht mal, ob er noch lebt.«
»Interessiert es dich nicht?«
»Ich habe das Thema abgeschlossen.«
»Vor ungefähr sechzig Jahren, wenn man dem hier Geschriebenen Glauben schenkt.« »Ja. Vor
ungefähr sechzig Jahren.« Sie musterten einander über den Tisch hinweg. Schweigend.
Schließlich sagte Chad: »Wenn du alles gelesen hast, dann weißt du auch, dass es keine andere
Wahl damals gab. Ich hatte Brian nicht hierher geholt. Ich war nicht verantwortlich für ihn.
Ich habe dafür gesorgt, dass er untergebracht war. Ein Dach über dem Kopf hatte. Hier konnte er
nicht bleiben.«
»Du hättest die Behörden einschalten müssen.«
»Du weißt, warum ich es nicht getan habe. Es ist leicht, jetzt herzukommen
und ... « Er unterbrach sich, stand auf, ging zum Fenster. Er
blickte hinaus in den bewegungslosen Tag.
»Rückblickend sieht alles immer ganz anders aus«, sagte er nach einer
Weile. »Ich verstehe nicht, dass es dich nicht interessiert zu er- fahren, was aus ihm geworden
ist.« »Dann verstehs du es eben nicht.« »Wer ist Semira Newton?« Er
wandte sich um. Leslie sah, dass eine Ader an seiner Stirn leise pochte. Er war aufgewühlter,
als er zugab. »Semira Newton? Die hat ihn damals ... entdeckt.« »Brian?«
»Ja.« »1970 ?« »Weiß nicht genau. Ist lange her.
Irgendwan n ... ja, 1 970 könnte
hinkommen.« »Sie hat ihn entdeckt? Was genau meinst du damit?« Er wandte sich wieder zum
Fenster. »Was ich sage. Entdeckt. Hat ein unglaubliches Theater veranstaltet. Polizei. Presse.
Was weiß ich.« »Sie hat ihn bei Gordon McBright entdeckt?« »Ja.« Leslie erhob sich. Sie fröstelte, obwohl es nicht kalt in der Küche
war.
»Was genau hat sie entdeckt, Chad?«
»Sie hat ihn eben gefunden. Brian. Sie hat ihn gesehen, und er war wohl ... nicht im besten
Zustand. Gott, Leslie, verdammt, was willst du eigentlich wissen?«
»Alles. Was passiert ist. Das, worüber Fionas Briefe keinen Aufschluss geben. Das will ich
wissen.« »Frag Semira Newton.« »Wo finde ich sie?« »Ich glaube, sie lebt in Robin Hood's
Bay.«
Robin Hood's Bay. Das Fischerdörfchen, auf halber Strecke zwischen Scarborough und Whitby
gelegen. Leslie kannte es. Es war klein genug, um einen Menschen dort ausfindig zu machen,
indem man sich einfach in einem der Häuser nach ihm erkundigte.
»Du willst mit mir also nicht darüber sprechen?«, hakte sie noch einmal nach. »Nein«, sagte
Chad, »das will ich nicht.« Beharrlich wandte er ihr den Rücken zu.
»Hast du eigentlich gar keine Angst?«, fragte Leslie. »Wovor?«
»Da ist irgendetwas Schlimmes passiert, Chad, und indem du nicht darüber sprichst, machst du es
nicht ungeschehen. Fiona und du, ihr wart tief in diese Sache verstrickt. Hast du dir mal
überlegt, dass der Mord an Fiona damit zu tun haben könnte? Und dass, wenn dem so ist, du auch
in Gefahr sein könntest«
Jetzt drehte er sich um, echtes Erstaunen im Blick. »Der Mord an Fiona? Aber den Kerl haben sie
doch jetzt. Der Typ hatte mit der Somerville-Geschichte überhaupt nichts zu tun.«
»Der mutmaßliche Mörder von Amy Mills?«
»Genau der. Colin sagt, das ist irgendein Psychopath. Spioniert Frauen hinterher und bringt sie
am Ende um. Total verrückter Kerl. Keine Ahnung, welches Problem der genau hat, aber mit meiner
und Fionas Vergangenheit hängt es jedenfalls nicht zusammen.«
»Kann sein. Aber wer sagt dir, dass der Mörder von Amy Mills und der von Fiona identisch sind?«
»Davon schien die Polizei doch immer auszugehen.« »Weißt du, ob sie es immer noch tut? Ich
würde mich jedenfalls in diese Theorie nicht zu sehr verbeißen«, sagte Leslie. Sie stopfte den
Papierstapel wieder in ihre Tasche. »Sei ein bisschen vorsichtig, Chad. Du bist zeitweise ganz
schön allein hier draußen.«
»Wo gehst du hin?«
Sie kramte ihren Autoschlüssel hervor. »Ich fahre nach Robin Hood's Bay. Zu Semira Newton. Ich
finde heraus, was los ist, Chad. Verlass dich darauf!«
»Es ist, als laufe man gegen eine Wand«, sagte Valerie. Sie lehnte an der Tür und sah Sergeant
Reek unglücklich an. Gerade hatte sie Stan Gibson hinausbegleitet, hatte ihn zähneknirschend
gehen lassen müssen, nachdem sie noch einmal zwei Stunden lang mit ihm geredet
hatte.
»Er macht keinen Fehler.«
»Und Sie sind sicher, dass er es war?«, fragte Reek. »Dass er Amy Mills ermordet
hat?«
»Ich bin absolut sicher, Reek. Er grinst mich an, weil er weiß, dass
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