Das andere Kind
Ihre
dunkle Hautfarbe, die schwarzen Haare und die Kohleaugen wiesen sie als Inderin oder Pakistani
aus.
Leslie klopfte das Herz bis zum Hals. Sie ging der alten Frau ein paar Schritte
entgegen.
»Mrs. Newton?«, fragte sie.
Die Frau, die ihren Blick die ganze Zeit über auf die Straße gerichtet hatte, schaute hoch.
»Ja?« »Ich bin Dr. Cramer. Leslie Cramer. Ich habe auf Sie gewartet.« »Hat länger gedauert«,
sagte Semira. Sie schien sich dafür nicht entschuldigen zu wollen, gab aber immerhin eine
Erklärung ab. »Ich bekomme donnerstags immer Massagen. Bei einer Freundin hier im Ort. Das ist
wichtig, weil mein Gestell«, sie meinte ihren Körper, »ja so schief und krumm ist. Heute haben
wir danach noch einen Tee getrunken und uns verschwatzt.« Sie war an der Tür ihres Ladens
angelangt, kramte umständlich den Schlüssel aus der Anoraktasche und schloss auf. »Selten um
diese Jahreszeit, dass jemand kommt und etwas bei mir kaufen will. Im Sommer ist hier ganz
schön was los, aber jetzt ... Hätte nicht gedacht, dass hier einer wartet.« Sie schob sich
langsam ins Innere, knipste das Licht an. »Wollen Sie denn etwas kaufen, Dr.
Cramer?«
Der Verkaufsraum war sehr schlicht. Holzregale mit ausgestellter Töpferware standen entlang der
Wände. In der Mitte ein Tisch, darauf eine große Blechschatulle, vermutlich die Ladenkasse.
Eine Tür führte in einen anderen Raum; Leslie nahm an, dass sich dort die Werkstatt
befand.
Semira bewegte sich mühsam um den Tisch herum und sank ächzend auf einen Stuhl, der dort stand.
Die Gehhilfe behielt sie neben sich.
»Entschuldigen Sie, dass ich mich gleich setze. Aber das Laufen und Stehen ist sehr anstrengend
für mich. Obwohl ich es öfter tun sollte. Mein Arzt schimpft immer mit mir, aber, na ja, ihm
tun die Knochen ja nicht weh!« Sie sah Leslie an. »Also, Sie möchten etwas kaufen?«
»Eigentlich komme ich aus einem anderen Grund«, sagte Leslie. »Ich ... würde gerne kurz mit
Ihnen sprechen, Mrs. Newton.«
Semira Newton wies auf einen Schemel, der in der Ecke stand. »Ziehen Sie sich den heran, und
setzen Sie sich. Etwas Komfortableres kann ich Ihnen leider gerade nicht anbieten.«
Leslie zog sich den Hocker auf die andere Seite des Tisches, so dass sie Semira gegenübersaß.
»Kein Problem«, versicherte sie.
»Also?«, fragte Semira noch einmal. Ihre Augen richteten sich nun sehr konzentriert auf ihre
Besucherin. Kluge, wache Augen, wie Leslie feststellte. Semira Newton mochte die Bewegungen
einer Achtzigjährigen haben, im Kopf war sie mit Sicherheit fit.
Sie gab sich einen Ruck. »Ich bin die Enkelin von Fiona Barnes«, sagte sie, »mit Mädchennamen
Fiona Swales.« Sie wartete auf eine Reaktion, aber nichts geschah. Semira blieb unbewegt. »Sie
kennen meine Großmutter, oder?«, fragte Leslie. »Ich habe sie einige Male getroffen, ja. Aber
das ist eine Ewigkeit her.«
»Sie ist ... sie wurde in der Nacht vom vergangenen Samstag auf Sonntag ... ermordet«, sagte
Leslie. Ihr kam diese Auskunft nur schwer über die Lippen. Es klang so befremdlich.
»Ich habe davon in der Zeitung gelesen«, erwiderte Semira. »Weiß man inzwischen, wer das getan
hat? Und warum?«
»Nein. Die Polizei tappt noch im Dunkeln. Zumindest scheint es so. Es dringt nichts nach außen,
was darauf schließen ließe, dass sie eine heiße Spur verfolgen.«
»Ich habe neulich gelesen, dass sehr viele Verbrechen unaufgeklärt bleiben«, sagte Semira in
einem Ton, als führe sie eine belanglose Unterhaltung zwischen Tür und Angel. Leslie erkannte
die Verschlossenheit dieser Frau. Das Gespräch mit ihr würde nicht ganz einfach
verlaufen.
„Ja, das ist wohl leider so«, stimmte sie zu. Dann sah sie Semira sehr ernst an. „Sie können sich
denken, weshalb ich hier bin, oder?«
„Sagen Sie es mir.«
„Ich habe nie alles aus dem Leben meiner Großmutter gewusst. Einige Einzelheiten habe ich erst
jetzt nach ihrem Tod und nur durch Zufall erfahren. Es gibt Namen, die waren mir vorher nicht
bekannt. Zum Beispiel der Name Brian Somerville.«
Semira erstarrte. Kein Muskel in ihrem Gesicht bewegte sich.
Leslie wiederholte drängend: „Sie wissen doch, von wem ich rede?«
„Ja. Und Sie wissen es auch. Was möchten Sie also von mir?«
„Einem Brief, den meine Großmutter wenige Wochen vor ihrem Tod an Chad Beckett geschrieben hat,
habe ich entnommen, dass es im Jahr 1970 zu einem Skandal gekommen sein muss, Brian Somerville
betreffend. Sie
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