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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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schreibt von einem riesigen Wirbel, den es in der Presse gegeben hat. Von
    polizeilichen Ermittlungen ... und von Ihnen. Ich habe das so verstanden, dass Sie der Auslöser
    waren.«
    Semira lächelte ein wenig. Sie sah nicht angespannt aus, eher müde. Ein wenig resigniert. Wie
    ein Mensch, der sich mit einem Thema, das seit Jahrzehnten zum Lebensthema geworden ist, einmal
    mehr beschäftigen muss und eigentlich kaum noch die Energie dafür aufbringen kann.
    »Ja«, sagte sie langsam, »ich war der Auslöser. Ich habe Polizei und Presse eingeschaltet.
    Jedenfalls dann, als ich dem Tod von der Schippe gesprungen war und wieder agieren
    konnte.«
    »Sie haben Polizei und Presse eingeschaltet, weil Sie ... Brian Somerville gefunden
    haben?«
    »Es war ein Dezembertag«, sagte Semira, und auch jetzt blieb ihre Stimme monoton und ihr
    Gesicht unbewegt, »der 19. Dezember, genau gesagt, im Jahr 1970. Ein Samstag. Sehr kalt. Schnee
    kündigte sich an. Mein Mann und ich, wir lebten damals in Ravenscar. Mein Mann war Koch in
    einem Altenheim in Scarborough, aber dort zu wohnen wäre teurer gewesen, also ... Ravenscar.
    Ich hatte keine Arbeit. Ich war vorher als Sozialarbeiterin in London tätig gewesen, aber es
    hatte uns nach Norden verschlagen, weil mein Mann nach langer Arbeitslosigkeit hier endlich
    einen Job angeboten bekam. Ich hoffte, auch irgendwann wieder Arbeit zu finden, aber in einer
    ländlichen Gegend wie dieser, damals ... als Pakistani hatte ich nicht allzu gute Karten. Es
    gab noch viele Vorbehalte und massive Ablehnung. Trotzdem war ich nicht unzufrieden. John, mein
    Mann, und ich liebten einander sehr. Wir hofften auf ein Baby.« Sie hielt inne, schien für
    einen Augenblick jener Zeit nachzuspüren.
    »Na ja, jedenfalls hatten mich Anfang Dezember die Kinder eines Arbeitskollegen von John
    angesprochen«, fuhr sie dann fort. »Sie waren in der Gegend umhergestreift und hatten sich bei
    der Farm von Gordon McBright herumgetrieben. Was übrigens damals alle Eltern ihren Kindern
    eindringlichst verboten. Kaum einer sah McBright je, aber es kursierten jede Menge Gerüchte. Er
    galt als unberechenbar, brutal und gefährlich. Manche sahen in ihm schlichtweg das
    personifizierte Böse.«
    »Gordon McBright ... «
    Semira Newton sah an ihrem Gast vorbei zum Fenster hinaus in den
    verdämmernden Oktobernachmittag. »Das gibt es«, sagte sie, »das Böse. Unvorstellbarer,
    erbarmungsloser und durchtriebener, als die meisten von uns ahnen. Ich jedenfalls, mit meinen
    damals achtundzwanzig Jahren und weiß Gott während meiner Zeit als Sozialfürsorgerin in London
    nicht gerade mit der Sonnenseite der Welt konfrontiert, kannte das wirklich Böse noch gar nicht.«
    Sie umkreiste das Thema, das merkte Leslie. Es fiel ihr schwer, zu jenem
    Dezembertag vor fast vierzig Jahren zu rückzukehren.
    »Wissen Sie, was ich vor einigen Monaten gelesen habe?«, fragte Semira. »Ich habe gelesen, auf
    welche Art sich in Spanien viele Menschen ihrer Hunde entledigen. Sie hängen sie an Bäumen auf.
    Aber nicht so, dass sie schnell tot sind. Sie hängen sie so auf, dass die Krallen an den Pfoten
    der Hinterbeine mit knapper Not die Erde erreichen. Das verzögert den Eintritt des Todes. Die
    Hunde kämpfen viele Stunden, ehe sie sterben.«
    Leslie schluckte. »Und wissen Sie, wie sie das nennen?«, fragte Semira.
    »Die Spanier?« »Nein«, sagte Leslie. Das Nein klang so krächzend, dass es kaum verständlich war. Sie räusperte
    sich.
    »Nein«, wiederholte sie.
    »Sie nennen es Klavier spielen«, sagte Semira. »Weil die Hunde in der verzweifelten Anstrengung, die Spitzen
    ihrer Pfoten auf dem Boden zu halten, um der langsamen Strangulation zu entgehen, ständig hin
    und her trippeln. Ähnlich den Bewegungen, mit denen die Finger eines Pianisten über die Tasten
    gehen.«
    Leslie blieb stumm. Entsetzt und geschockt.
    »Ja«, fuhr Semira fort, »das war es, was mich so erschütterte. Nicht nur
    die Tatsache, dass sie es so machen. Sondern der Name, den sie diesem grausamen Schauspiel
    geben. Vielleicht ist das Böse in seiner Mächtigkeit am stärksten dort zu spüren, wo wir nicht
    nur dumpfer Brutalität gegenüberstehen. Sondern dort, wo die Brutalität von Zynismus begleitet
    wird. Weil das zeigt, dass der Verstand mit eingeschaltet ist. Und ist es nicht unerträglich zu
    begreifen, dass Menschen mit Verstand derartige Dinge tun?«
    »J a«, sagte Leslie leise, »das ist es.«
    »Aber deswegen sind Sie nicht hergekommen«, sagte

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