Das andere Kind
ich es weiß, und weil er
weiß, dass ich nichts machen kann. Er genießt es, mit mir zu spielen. Er ist höflich, geduldig.
Fast hilfsbereit. Und lacht sich insgeheim ins Fäustchen.«
»Und das Gespräch mit Miss Witty hat auch nichts gebracht?«
Valerie hatte zuvor eine Stunde lang mit Ena Witty gesprochen. Es war
nichts Neues dabei herausgekommen. »Nein. Sie hat nur noch einmal sei nen Aufenthalt in Lon don zur Tatzeit im Fall Barnes
bestätigt. Ansonsten ihre Schilderung des Alltags mit Stan Gibson wiederholt. Sie hatte Angst
vor ihm, Reek, sie war zumindest dicht davor, Angst zu bekommen. Gibson hat eine Riesenmacke,
und das hat sie immer stärker gespürt. Ich spüre es selbst. Der Kerl ist sehr gefährlich, aber
er ist perfekt getarnt. Hinter seinem höflichen Lächeln steckt ein hochgradig gestörter
Psychotiker. Darauf wäre ich bereit, jeden Eid zu schwören.«
»Eine Riesenmacke, Psychotiker, Ihr Eid-das fegt Ihnen der Staatsanwalt im Handumdrehen vom
Tisch«
»Ich weiß. Ich stehe mit leeren Händen da.«
Behutsam sagte Reek: »Ihre Nerven ... «, er verbesserte sich
taktvoll, »unsere Nerven liegen ziemlich
bloß in diesem Fall, Inspector. Ein schrecklicher Mord, und dann monatelang keine Spur. Wir
dürfen uns jetzt nicht in jemanden verbeißen, nur weil wir ... «
Sie lachte unfroh. »Ach, Reek! Sagen Sie doch, was Sie denken! Dass ich mich an Gibson
festkralle, weil ich endlich einen Täter präsentieren möchte? Nein. Das wäre unlogisch. Gibson
hat sich perfekt abgesichert. Mich an ihm aufzuarbeiten, wenn ich nicht überzeugt wäre, den
Richtigen vor mir zu haben, wäre idiotisch, denn ich werde ihn nicht überfuhren können. Nicht
jetzt. Nicht für dieses Verbrechen.«
Reek strich sich über die Augen. Die vielen Überstunden machten sich bemerkbar. »Was wollen wir
tun«
»Ich werde jeden Millimeter Boden um ihn herum umgraben«, sagte Valerie.
»Im übertragenen Sinn. Jeden Menschen befragen, der ihn kennt, egal, wie entfernt. Seinen Chef,
seine Arbeitskollegen. Die Leute, die in seinem Haus wohnen. Jeden Bekannten, Verwandten,
Freund. Ich werde den Sand sieben in der Hoffnung, dass irgendwann
ein winziges Stück Gold hängen bleibt.« »Obwohl Sie bereits jetzt überzeugt sind, ihn nicht
überführen zu können?«
»Er ist schlau. Gerissen. Clever. Aber er ist ein Mensch. Irgendwann macht er einen Fehler. Und
ich werde so dicht und ununterbrochen an ihm dran sein, dass ich genau in diesem Moment dann
zuschlagen kann.« »Welche Art Fehler könnte das sein?«, fragte Reek. Valerie ging zum Fenster,
blickte hinaus. Sie wusste nicht, ob Gibson mit dem Auto oder zu Fuß gekommen war. Auf dem
Parkplatz konnte sie ihn jedenfalls nicht sehen. Vielleicht war er auch schon weg. Pfiff auf
dem Heimweg wahrscheinlich fröhlich vor sich hin.
»Er wird es wieder tun, Reek. Aus zwei Gründen: Er wird wieder eine Frau haben wollen, nicht
Ena Witty, von der lässt er die Finger, weil er weiß, dass sie unter unserer Beobachtung steht.
Nein, eine andere. Und irgendwann wird die nicht so wollen, wie er will. Und dann hat er ein
Problem. Genau damit kommt er nämlich nicht zurecht.«
»Und der andere Grund?«
»Er ist krank genug, um sich nicht mit diesem einen Erfolg zufrieden zu geben. Mit der
ermittelnden Beamtin, die fast ein Magengeschwür bekommt, weil sie ihn nicht überführen kann.
Das alles ist ein einziger Triumph für ihn. Er ist fast rauschhaft glücklich, Reek, im
Augenblick. Er braucht diesen Rausch erneut.«
»Ein gefährliches Spiel, Inspector.«
Sie drehte sich um. Reek erschrak fast vor der Wut in ihren Augen. »Ja. Ein Scheißspiel, Reek,
da haben Sie recht. Aber es gibt keinen anderen Weg. Warten,und dann zuschlagen. Meine einzige
Chance«
»Das klärt dann aber nicht den Fall Amy Mills. Jedenfalls nicht offiziell und nicht für ihre
Angehörigen. Ihre Mutter und ihr Vater werden es vielleicht nie erleben, dass der Typ, der ihre
Tochter auf dem Gewissen hat, dafür verurteilt wird.«
»Möglich. Und glauben Sie mir, Reek, das macht mich mindestens so fertig wie Sie. Aber das gibt
es. Immer wieder. Wir kriegen nicht jeden. Wir kriegen nicht jeden für das, was er getan hat.
Wir können den Angehörigen der Opfer ihren Wunsch nach Gerechtigkeit nicht immer erfüllen. Das
ist furchtbar, aber es ist so. Im Fall Gibson kann es für mich nur noch darum gehen, ein hoch
gefährliches Individuum aus dem Verkehr zu ziehen. Um weiteres Unheil zu
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