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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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kam.
    Leslie hatte die Töpferei rasch gefunden, sie lag knapp oberhalb der Stelle, an der sich die
    Straße verbreiterte und zum Strand hin öffnete. Das Haus war so klein und windschief wie die
    meisten anderen im Dorf, mit weiß gekalkten Wänden und einer Haustür aus glänzend schwarzem
    Holz. Es gab zwei Schaufenster neben der Tür, in denen die Ware ausgestellt war, die Semira
    Newton anbot: Becher, Tassen, Teller und Schüsseln aus glasiertem Ton, dick, manchmal etwas
    unförmig, aber eigenwillig und ursprünglich. Nicht ein einziges Teil war bunt bemalt. Je nach
    Brenntemperatur und Lasur variierte der Braunton zwischen hellem Beige und sattem Dunkelbraun,
    aber darin erschöpfte sich auch schon die Farbenvielfalt. Leslie, die blümchenbemaltem Geschirr
    nichts abgewinnen konnte, gefiel die Schlichtheit dieser Auslage.
    Leider war Semira Newton nicht daheim, zumindest war sie nicht im Laden.
    Ein Zettel an der Tür verkündete: Bin gegen vier Uhr
    zurück!
    Leslie hatte auf ihre Uhr geschaut. Kurz vor zwei.
    Sie klopfte trotzdem ein paar Mal an, schaute auch zu den oberen Fenstern
    hinauf i n der Hoffnung, dort möge sich e twas regen, aber nichts bewegte sich hinter den weißen Gardinen. Offenbar war Semira
    tatsächlich nicht daheim.
    Leslie ging an den Strand hinunter. Um diese Jahreszeit gab es kaum Touristen. Eine Schulklasse
    von etwa zwanzig acht- oder neunjährigen Kindern saß, mit Zeichenblöcken bewaffnet, auf den
    flachen, langgezogenen Felsen am oberen Rand der Bucht. Die begleitende Lehrerin las in einem
    Buch, während die Kinder, in bunten Anoraks steckend, mit höchster Konzentration und mit
    zwischen die Lippen geschobener Zunge malten. Das Meer, den Sand ... Leslie warf im Vorbeigehen
    einen Blick auf ein paar Zeichnungen.
    Wie hübsch, dachte sie, die Zeichenstunde hierherzuverlegen.
    Zwei ältere Frauen liefen im Schlick entlang und sammelten Steine und
    Muscheln. Ein Mann lehnte an der Mauer, die die am äußersten Dorfrand ein Stück oberhalb der
    Bucht gelegenen Häuser abstützte, und schaute sinnierend in die Weite. Ein anderer Mann warf
    für seinen Hund Tennisbälle, und das Tier sauste in langen Sprüngen, begeistert bellend, den
    Strand entlang. Leslie sah ihm eine Weile zu, dann setzte sie sich auf einen Felsen und zog ihre Jacke enger um sich. Es war
    eigentlich nicht besonders kalt, aber dennoch fröstelte sie. Sie wusste auch, warum: Sie
    fürchtete sich vor dem Gespräch mit Semira Newton.
    Vielleicht sollte ich einfach nach Scarborough zurückfahren, dachte sie, und die alten
    Geschichten auf sich beruhen lassen.
    Vielleicht war es dafür aber auch schon zu spät. Sie wusste bereits zu viel. Das, was ungeklärt
    war, würde sie verfolgen. Sie konnte die Vergangenheit ruhen lassen, aber würde die
    Vergangenheit es ebenso machen? Sie, Leslie, ruhen lassen?
    Langsam leerte sich der Strand, denn die Flut
    kün dete sich an. Der Mann verschwand mit seinem Hund, die
    Schulklasse packte Blöcke und Stifte zusammen. Die beiden älteren Frauen traten den Rückweg an.
    Als Leslie sich um vier Uhr zur Töpferei aufmachte, war nur der einsame Mann an der Mauer noch
    da, der unverwandt über das Meer starrte, zu einem Ort am Horizont, den wohl nur er sah und
    sonst niemand.
    Entgegen ihrem Versprechen, um vier Uhr zurück zu sein, ließ sich Semira Newton auch um Viertel
    nach vier noch nicht blicken, tauchte auch um halb fünf nicht auf. Leslie, die vor dem Haus auf
    und ab ging, ein paar Zigaretten rauchte, zunehmend fror und sich deprimiert fühlte, war fast
    so weit, dies als einen Wink des Schicksals zu werten: Es sollte nicht sein. Es brachte nichts,
    es war zu nichts gut. Vielleicht bekam sie einfach eine Chance, der Begegnung mit Semira zu
    entgehen, und am Ende würde sie sich irgendwann wünschen, sie hätte die Chance
    genutzt.
    Um zehn vor fünf beschloss sie, Robin Hood's Bay zu verlassen, aber genau da sah sie eine
    Gestalt die Straße herunterkommen, von der sie instinktiv sofort wusste, dass es sich um die
    Frau handelte, auf die sie bereits den ganzen Nachmittag wartete. Eine kleine Frau, die sich
    mühsam an einer Gehhilfe fortbewegte, eine Mühsal, die durch die steil abfallende Straße noch
    verstärkt wurde. Sie kam sehr langsam voran, schien für jeden einzelnen Schritt Willenskraft
    und Konzentration zu brauchen. Sie trug beigefarbene Hosen und einen braunen Anorak und
    kleidete sich damit in den Farben der Töpferwaren, die sie herstellte und verkaufte.

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