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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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regelmäßig so gnadenlos auf ihn
    eingeschlagen, bis er irgendwie funktionierte. Mrs. McBright berichtete, sie habe oft Angst
    gehabt, ihr Mann schlage Brian tot. Und das vierundzwanzig Jahre lang. Vierundzwanzig Jahre
    lang musste Brian in dieser Hölle ausharren. Er bekam kaum etwas zu essen, und jeden Abend,
    oder wann immer er gerade nicht arbeitete, wurde er in diesem Stall festgekettet. Mrs. McBright
    hat ihm wohl einmal eine Decke gebracht, aber ihr Mann erwischte sie dabei, und danach wagte
    sie nie wieder etwas Ähnliches. In gewisser Weise, auch das war später bei ihrer Vernehmung
    herauszuhören, bedeutete Brians Anwesenheit auf dem Hof eine Erleichterung für sie, obwohl sie
    behauptete, sich vor seinen qualvollen Schreien oft verzweifelt die Ohren zugehalten zu haben.
    Ihr Mann hasste den Jungen so sehr, dass sich seine Aggressionen zunehmend an ihm entluden und
    Mrs. McBright selbst nicht mehr so oft das Opfer seiner Attacken war. Vielleicht hat das dazu
    beigetragen, dass sie nichts unternahm, dem wehrlosen Kind - denn anfangs war er nichts
    anderes: ein Kind - zu helfen. Aber vielleicht hätte sie es so oder so nicht getan. Sie half ja
    nicht einmal sich selbst. Sie war ein völlig gebrochener Mensch. Eigentlich hatte sie damals
    schon seit vielen Jahren keinen echten Lebenswillen mehr.«
    Semira schüttelte den Kopf, als gehe dies alles über ihr Verständnis hinaus, dabei, so dachte
    Leslie, kannte sie das Phänomen wahrscheinlich besser als die meisten anderen: Frauen, die sich
    nicht wehrten. Oder sich zu spät wehrten. »Jedenfalls«, fuhr sie fort, »war Brian in diesem
    Winter 1970 am Ende. Noch keine vierzig Jahre alt, und er sah aus wie ein mindestens
    Sechzigjähriger. Ich weiß nicht, was McBright zum Schluss mit ihm angestellt hatte, jedenfalls
    schien es nicht so, als könne er es überleben. Das, was ich da auf dem Boden im Schafstall
    fand, atmete noch, aber obwohl ich keine Medizinerin bin, wusste ich, dass er es vermutlich
    selbst mit medizinischer Hilfe nicht mehr schaffen konnte. Und wieder reagierte ich falsch.
    Anstatt sofort loszulaufen, als ob der Teufel hinter mir her sei, mich in mein Auto zu werfen
    und zur Polizei zu rasen, kauerte ich neben ihm nieder. Drehte ihn um. Hielt Ausschau nach
    einem Wasserhahn, weil er mir als ein Verdurstender erschien. Ich wollte ihm helfen. Sofort.
    Auf der Stelle. Und blieb zu lange in diesem Stall. Einfach zu lange.«
    »McBright überraschte Sie?«
    »Nicht im Stall«, sagte Semira. »Es gelang mir, durch das Fenster wieder nach draußen zu
    klettern. Der Stall war Teil der Außenmauer, die den Hof umschloss, und das Fenster führte auf
    ein Stück Acker dahinter. Eine Scheibe gab es wohl schon lange nicht mehr. Jedenfalls musste
    ich wieder um das Grundstück herum, um auf die Vorderseite des Hügels zu gelangen, an dessen
    Fuß ich meinen Wagen geparkt hatte. Und da tauchte er plötzlich auf. Vor seinem Hoftor. Er
    hatte aus einem Fenster geblickt und mein parkendes Auto entdeckt. Ich hatte es ein Stück
    entfernt inmitten einer Baumgruppe abgestellt, aber mir ist inzwischen klar, dass man es aus
    einem der oberen Zimmer des Wohnhauses sehen konnte. Die kahlen Bäume verbargen es natürlich
    nicht ausreichend. Wie auch immer, er stand plötzlich vor mir. Hätte ich mich nicht so lange
    bei Brian aufgehalten, ich wäre zu diesem Zeitpunkt vielleicht schon am Auto
    gewesen.«
    Sie blickte auf die Tisc hplatte vor sich, fuhr
    mit den Fingern ein paar Kerben nach. »Ich wusste sofort, dass ich
    in höchster Gefahr schwebte. Ich hatte es mit einem Sadisten zu tun, der vor nichts
    zurückschreckte. Wenn ihm klar wurde, dass ich sein Geheimnis entdeckt hatte, konnte er mich
    nicht einfach davonfahren lassen. Bis heute erinnere ich mich, wie heftig mein Herz schlug und
    wie trocken sich mein Mund anfühlte. Dass meine Beine einzuknicken drohten. Ich versuchte, ihm
    Harmlosigkeit vorzugaukeln. Dass ich fremd in der Gegend sei, mich rettungslos verfahren hätte
    und um den Hof herumgelaufen war in der Hoffnung, jemanden zu finden, der mir helfen könnte. Er
    hörte sich das an, aber ich merkte, wie er mich belauerte. Er war sich nicht sicher. Offenbar
    hatte er nicht direkt gesehen, wie ich in den Stall eingestiegen war, aber ich musste dort
    herumgestrichen sein. Seine Augen durchdrangen mich förmlich. Lieber Gott, in meinem ganzen
    Leben habe ich nie kältere Augen gesehen.« Sie schüttelte den Kop£ »Fast dachte ich schon, ich
    würde mit

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