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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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heiler Haut davonkommen. Er machte ein paar abfällige Bemerkungen über Pakistanis und
    sagte dann, ich solle verschwinden. Also drehte ich mich um und begann den Weg
    hinunterzulaufen. Nicht zu schnell, damit er nicht misstrauisch würde. Aber dann ... überlegte
    er es sich doch anders. Er rief mich noch einmal zurück. Und er schaute mich an. Und ... etwas
    sagte ihm, dass ich es wusste. Dass ich Brian gesehen hatte.«
    »Sie versuchten zu fliehen«, sagte Leslie mit einer Stimme, die in ihren eigenen Ohren fremd
    klang.
    »Ich rannte um mein Leben. Er folgte mir. Er war kein junger Mann mehr,
    aber er war stark und entschlossen, und er kam immer näher. Ich wusste, dass ich es nicht
    schaffen würde, mein Auto aufzuschließen und einzusteigen, nicht rechtzeitig. Es gab dieses
    k leine Waldstück, seitlich unter halb
    der Farm. Dorthin bog ich ab, ohne lange zu überlegen, es war wohl ein Instinkt, der mich
    trieb, ein Versteck zu suchen, nachdem die Flucht nicht erfolgreich sein würde. Aber die Bäume
    standen weit auseinander und trugen kein Laub, und ich war keinen Moment lang für meinen
    Verfolger unsichtbar.«
    Leslie atmete tief durch. Selbst wenn Semira es nicht bereits gesagt hätte, sie hätte nur den
    geschundenen Körper sehen müssen, die mühevollen Bewegungen, mit denen Semira auf sie
    zugekommen war, um zu wissen, dass McBright sie geschnappt hatte und dass seine Wut ungehemmt
    über sie hereingebrochen war.
    »Ich will gar nicht im Einzelnen über das sprechen, was dann geschah«,
    sagte Semira. »Er erwischte mich, und er war wie rasend. Ich glaube, dass er sich völlig im
    Recht fühlte, mit mir zu verfahren, wie immer er wollte. Ich war in seinen Besitz eingedrungen.
    Für ihn war es gleichgültig, ob ich in seinem Schafstall gestanden hatte, oder ob er mich
    erwischt hätte, wie ich in seinem Wohnzimmer den Geldbeutel ausräumte. Er war eine vollkommen
    kranke Persönlichkeit, ein gefährlicher Psychopath. Er ist später übrigens nicht im Gefängnis
    gestorben, sondern in der Sicherheitsverwahrung. Zum Glück hat sich nie jemand gefunden, der
    bereit gewesen wäre, ihn wieder unter Menschen zu lassen.« »Wie haben Sie es geschafft ... am
    Leben zu bleiben?« »Das ist mir selbst bis heute ein Rätsel«, sagte Semira und lachte voller
    Bitterkeit. »Ich glaube auch nicht, dass McBright davon ausging, es könnte mir gelingen. Aber
    auch daran sehen Sie, wie gestört er war. Ich meine, in seiner Logik hätte es liegen müssen,
    sich zu vergewissern, dass ich wirklich tot war, und notfalls so lange weiterzumachen, bis ich
    es unzweifelhaft gewes en wäre. Danach hätte er meine Leiche vergraben müssen, die Spuren verwischen. Mein Auto im nächsten
    Tümpel versenken, oder was weiß ich. Aber das tat er alles gar nicht. Er fühlte sich nicht
    schuldig, er fühlte sich nicht als ein Mensch, der für das, was er getan hat, zur Rechenschaft
    gezogen werden könnte, und der deshalb zusehen musste, auf keinen Fall erwischt zu werden. Er
    hatte getan, was er für richtig hielt. Er ließ mich in diesem gottverlassenen Waldstück liegen
    und ging davon, und es kümmerte ihn nicht, was aus mir wurde.«
    »Ihr Mann hat Sie dann abends vermisst?«
    »Leider noch nicht am Abend. Er hatte Dienst an diesem Samstag, aber wir
    hatten vorgehabt, nach seiner Heimkehr noch ins Kino zu gehen. Er verspätete sich, und als er
    mich nicht antraf, vermutete er, ich sei allein gegangen. Oder mit einer Freundin, mit der ich
    hinterher noch irgendwo etwas trinken würde. Ich tat das manchmal, wenn er keine Zeit hatte,
    und so machte er sich keine großen Gedanken, ging ins Bett und schlief ein. Erst am
    Sonntagmorgen, als er aufwachte und feststellte, dass ich noch immer nicht daheim war, ging ihm
    auf, dass etwas nicht stimmte.« »Und Sie lagen die ganze Zeit über in diesem Wald?« Semira
    nickte. »Halb tot und phasenweise überhaupt nicht bei Bewusstsein. Beide Kiefer waren mehrfach
    gebrochen, ebenso meine Nase, die so zuschwoll, dass ich nur noch schwer Luft bekam. Mein
    Becken hatte er mit einem dicken Ast zertrümmert. Ich hatte unfassbare Schmerzen, aber, wie
    gesagt, zum Glück verlor ich immer wieder die Besinnung. Wenn ich mich zu erinnern versuche,
    verschwimmt alles. Ich weiß, dass es eiskalt war. Und nass. Und dunkel. Zwischendurch wurde es
    hell, ich sah die kahlen Baumwipfel über mir und die tiefhängenden Wolken des Winterhimmels.
    Ich hört e Vögel schreien. Ich erinnere mich an den Geschmack von

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