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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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1943
    versprochen hatte, zu ihm zurückzukommen, und heute, nach mehr als sechzig Jahren, hat er die
    Hoffnung, dass sie ihr Versprechen einlöst, immer noch nicht aufgegeben. Aber nicht ein
    einziges Mal hat sie sich bei ihm blicken lassen. Dafür, Leslie, habe ich Ihre Großmutter mehr
    gehasst als für alles andere. Dafür am allermeisten.«
    Draußen vor den Fenstern dämmerte es. Der Tag, der so grau und leblos, so bleiern gewesen war,
    ging in einen stillen Abend über. Trotzdem zögerte Gwen, das Licht anzuknipsen. Weder ihr
    eigenes Gesicht noch das von Dave, der ihr gegenübersaß, mochte sie beleuchten, und sie fragte
    sich, weshalb sie diese Scheu empfand. Vielleicht hatte sie die Befürchtung, das aufflammende
    Licht werde auch die Wahrheit erhellen, und das erschien ihr unerträglich.
    Die Wahrheit, dass Dave sie verlassen würde.
    Sie saßen seit fast einer Stunde im Wohnzimmer auf der Beckett-Farm, und sie hatten wenig
    gesprochen in dieser Zeit. Über sich hörten sie Jennifer und Colin auf und ab gehen, und
    irgendwann zwischendurch hatte sich Gwen einmal gefragt, weshalb die bei den da oben so
    beschäftigt schienen. Man konnte die Krallen der Hunde auf dem Holzfußboden vernehmen, auch die
    Tiere schienen unruhig zu sein und sich nicht, wie sonst, in irgendeine Ecke zu werfen und zu
    schlafen. Aber dann hatte Gwen entschieden, dass es keine Rolle spielte, was Jennifer und Colin
    dort oben taten, was sie vorhatten oder was sie umtrieb.
    Angesichts des Umstands, dass ihre eigene Zukunft soeben zusammenbrach, war das völlig
    gleichgültig.
    Eigentlich hatte sie es geahnt. Sie fragte sich, ob das Wissen, dass sie in ihrer Beziehung zu
    Dave über dünnes Eis lief, das am Ende nicht halten würde, von Anfang an in ihr gewesen war,
    vom allerersten Moment an. Es hatte Dutzende von Hinweisen und Signalen gegeben. Sie entsann
    sich des Tages, an dem sie bei ihm aufgekreuzt war und ihn gebeten hatte, mit ihr zu schlafen.
    War es zwei Tage her oder drei? Er hatte sich gewunden. War ihr ausgewichen. Hatte sie in
    Gespräche verstrickt. War schließlich voll sichtlicher Erleichterung zur Schule aufgebrochen,
    nachdem er zuvor ständig auf seine Uhr geschielt hatte, als könne er es nicht erwarten, dass
    sein Kurs endlich anfinge und er einen Grund hätte, sein Zimmer und seine künftige Frau für ein
    paar Stunden zu verlassen. War spät erst zurückgekehrt. Hatte die ganze Nacht über gelesen, war
    in den frühen Morgenstunden zu einem Spaziergang aufgebrochen und hatte sie abgewiesen, als sie
    ihn hatte begleiten wollen.
    »Ich muss allein sein«, hatte er gesagt, und sie war zurückgeblieben, hatte eine Weile
    gewartet, frustriert und gedemütigt. Schließlich hatte sie sein Zimmer und das Haus verlassen,
    war einige Stunden ziellos in der Stadt herumgewandert, ehe sie ein Taxi zurück zur Farm
    genommen hatte. Ohne mit ihm geschlafen zu haben. Und sie hatte gewusst, dass sie es nie tun
    würden: Sie würden nie Sex miteinander haben.
    Denn Dave begehrte sie nicht. Er hatte nicht die geringste Lust auf sie. Wahrscheinlich hätte
    er es eher mit seiner Hauswirtin getrieben als mit seiner Verlobten. Nicht nur, dass er sie
    nicht liebte, nein, er empfand sie vermutlich sogar als abstoßend. Es gab nichts, was ihn zu
    ihr hingezogen hätte. Nichts - nur das Stück Land am Meer, das sie eines Tages besitzen
    würde.
    Und selbst von dem Gedanken daran hatte er sich nun verabschiedet. Sie
    hatte das sofort erkannt, als sie am frühen Nachmittag zusammen mit Jennifer aus der Stadt auf
    die Farm zurückgekehrt war. Sie hatten noch eine Ewigkeit bei Ena Witty verbracht, die
    plötzlich wieder in Tränen aufgelöst gewesen war und sie beide nicht
    hatte gehen lassen wol len, ohne das Thema Stan Gibson noch einmal
    von vorne bis hinten durchzukauen. Als sie sich endlich hatte loseisen können, hatte Jennifer
    nicht sofort nach Hause gewollt, und so waren sie noch ein wenig gebummelt und hatten später
    bei dem Italiener in der Huntriss Row zu Mittag gegessen, dann waren sie zum Hafen
    hinuntergelaufen, hatten dort Tee getrunken, und Jennifer hatte sich sogar zwei Schnäpse
    genehmigt. Jennifer war überhaupt verändert, fand Gwen. Stan Gibson ließ sie nicht mehr los.
    Sie hatte die ganze Zeit über ihn gesprochen und über Ena Witty, Amy Mills und sich selbst. Sie
    war um die Frage gekreist, weshalb Gibson in Amy Mills sein ideales Opfer gesehen haben mochte,
    und weshalb manche Menschen prädestiniert schienen,

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