Das andere Kind
Dinge gibt, die es nicht gibt. Besonders im Hinblick darauf, was Menschen einander anzutun imstande sind.
Wie gesagt, ich war Sozialarbeiterin in London gewesen. Ich hatte etliche Fälle von schwerster
häuslicher Gewalt erlebt. Ich war sechs Jahre jünger als John, aber weit weniger naiv als
er.«
»Sie suchten die Farm au£«
»Nach all dem Hin und Her dachte ich, am besten mache ich mir selbst ein
Bild und schalte dann Polizei und Jugendamt ein - sollte sich bestätigen, was die Kinder
erzählt hatten. Ich hatte durchaus Angst. Wie gesagt, Gordon McBright genoss einen
fürchterlichen Ruf in Ravenscar. Obwohl wir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht so lange dort
wohnten, hatte ich schon viel von ihm gehört. Ein hasserfüllter, brutaler, vollkommen asozialer
Mann, so war er geschildert worden. Er so ll als Kind von seinem
eigenen Vater jahrelang missbraucht worden sein, aber ob dieses
Gerücht stimmt, weiß ich nicht. Es diente als Erklärung dafür, weshalb er in dieser namenlosen
Wut auf Gott und die Welt lebte und jedem Menschen nur mit Verachtung und Bösartigkeit
begegnete. Er hatte eine Frau, von der es hieß, sie sei ein körperliches Wrack. In all den
Jahren war sie nur zwei- oder dreimal im Dorf gesehen worden. Sie habe keine Zähne mehr, hieß
es, sei völlig ausgemergelt und lebe ganz offensichtlich in panischer Angst vor ihrem Mann.
Aber sie hat sich wohl nie um Hilfe an irgendjemanden gewandt, auch nicht an die Polizei. Und
selbst hätte sich niemand eingemischt. Dafür hatten alle viel zu viel Angst vor
McBright.«
»Es war ... es kommt mir vor wie Wahnsinn, allein dort hinzugehen«, sagte Leslie.
»O ja«, stimmte Semira zu, »das wusste ich
später dann auch. Aber damals fürchtete ich mich zwar, unterschätzte aber zugleich die Gefahr,
die von diesem Mann ausging. Und Sie müssen bedenken, ich war es von meinem Beruf her gewöhnt,
gewalttätige Menschen aufzusuchen und ihnen auf die Nerven zu fallen. Was meinen Sie, mit wie
vielen aggressiven, brutalen Familienvätern ich schon zu tun hatte? Aber damals in London war
ich Teil der Sozialbehörde gewesen und damit auch geschützt. Wo immer ich hinging, meine
Mitarbeiter wussten Bescheid. Oder ich nahm eine Kollegin mit. Oder gleich die Polizei, wenn
die Situation ganz heikel war. Das war hier natürlich nicht der Fall.« Sie machte eine kurze
Pause und sagte dann nachdenklich: »Der größte Fehler war, niemandem Bescheid zu sagen. Absolut
niemanden wissen zu lassen, was ich vorhatte. Das war der Wahnsinn, Leslie. In diese weltabgeschiedene Einsamkeit zu fahren,
zu einem Verbrecher wie Gordon McBright, und nicht einmal einen Zettel daheim auf den
Küchentisch zu legen, auf dem stand, was ich vorhatte.« »Sie haben ein Kind
entdeckt?«
Semira schüttelte den Kopf. »Nein. Ein Kind nicht. Ich habe einen Mann entdeckt. In einem
ehemaligen Schafstall, direkt neben dem Wohnhaus der Farm. Er lag zusammengerollt wie ein
Embryo auf dem Boden und wirkte dadurch viel kleiner, als er war. Es fiel kaum Licht in diesen
Schuppen. Die Kinder haben ihn für ein Kind gehalten, aber das war der einzige Punkt, in dem
sie geirrt hatten. Ansonsten stimmte alles. Das Eisen um den Hals. Die Kette, die mit einem
Schloss gesichert um einen Balken geschlungen war. Das schmutzige Stroh, auf dem er lag. Die
grausame Kälte, der er fast nackt ausgesetzt war. Ich konnte es nicht fassen. Noch heute,
vierzig Jahre später, kann ich es kaum fassen, wenn ich davon berichte. Obwohl das alles mein
Leben verändert hat, ist es seltsam unwirklich geblieben.« Sie sah Leslie an und blickte
gleichzeitig durch sie hindurch. »Ich hatte Brian Somerville gefunden«, sagte sie.
Sie hatte fast fünfzehn Minuten lang geschwiegen, auf einen imaginären
Punkt an der Wand geblickt. Die Uhr schien doppelt so laut zu ticken wie zuvor. Draußen wurde
es dunkel. Leslie wagte mit keinem Wort das Schweigen zu stören. »Er lag im Sterben«, sagte
Semira schließlich so unvermittelt, dass Leslie zusammenzuckte. »Er war zum Skelett abgemagert.
Sein Körper war mit großen, eitrigen Wunden übersät, Spuren der Misshandlungen, denen er immer
wieder ausgesetzt gewesen war. Wir haben später von Mrs. McBright erfahren, dass er wie ein
Sklave gehalten und zu härtester körperlicher Arbeit herangezogen worden war, auch als er noch ein Junge gewesen war. Da es wenig Sinn gehabt hatte, ihm etwas
zu erklären, denn er begriff ja nichts, hatte Gordon McBright
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