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Das andere Kind

Titel: Das andere Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Das andere Kind
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einen Mann von fast vierzig Jahren gefunden, der
    geistig behindert war und in einem Stall gehalten wurde, einen Mann, der an den ihm zugefügten
    Misshandlungen fast gestorben wäre und nur mit Mühe und Not überlebte, einen Mann, von dem
    zunächst keiner wusste, wer er eigentlich war. Die Polizei hatte zuerst angenommen, es handele
    sich um einen Sohn der McBrights, einen, dessen Existenz sie vielleicht wegen seiner
    Behinderung verschwiegen hätten. Gordon McBright äußerte sich überhaupt nicht, und Mrs.
    McBright benötigte wochenlange psychologische Unterstützung, bis sie endlich vernehmungsfähig
    war. Sie erklärte dann, sie habe keine Kinder. Ihr Mann sei kurz nach dem Krieg eines Tages mit
    einem etwa vierzehnjährigen Jungen nach Hause gekommen und habe gesagt, er habe eine
    Arbeitskraft für den Hof organisiert. Sie hätten den Jungen Nobody genannt. Unter diesem Namen
    habe ihr Mann ihn ihr vorgestellt.«
    Leslie dachte an die Briefe ihrer Großmutter, in denen dieser abwertende
    Name immer wieder aufgetaucht war. In kindlicher Grausamkeit hatten sie und Chad den kleinen
    Brian so getauft. Aber es war schwer vorstellbar, dass Chad Beckett als erwachsener junger Mann
    Brian auch noch unter diesem Namen an seinen Peiniger ausgeliefert hatte. Hier ist unser Nobody. Sie können ihn haben.
    Und doch musste es so gewesen sein.
    »Nach und nach aber klärten sich die Zusammenhänge«, fuhr Semira fort, »und Nobodys Spur konnte
    zur Beckett-Farm zurückverfolgt werden. Ich weiß bis heute nicht genau, wie Chad Beckett das
    hinbekommen hat, aber die Verantwortung für die ganze Tragödie blieb in den Augen der
    Öffentlichkeit weitgehend an seinem inzwischen verstorbenen Vater hängen. Ich kann mir nicht
    vorstellen, dass Beckett viel mit der Polizei oder gar mit den Medien gesprochen hat, der
    eloquente Typ ist er ja wirklich nicht, aber aus dem Wenigen, was er hat verlauten lassen, ist
    wohl dieses Bild entstanden: Arvid und Emma Beckett hatten sich für die Aufnahme des
    Waisenkindes entschieden, ohne irgendeine Behörde darüber in Kenntnis zu setzen, und sie hatten
    dem Kind auch jede Möglichkeit einer Förderung verwehrt - wobei man natürlich zugeben muss,
    dass es damals in den vierziger Jahren auch nur wenige Möglichkeiten gegeben hätte. Es hieß in
    der Berichterstattung allgemein, Chad sei ziemlich traumatisiert aus dem Krieg heimgekommen und
    überfordert gewesen mit dem älter und schwieriger werdenden Brian, und er habe sich nichts
    weiter dabei gedacht, als sein Vater den Jungen auf einen Hof, auf dem es keine Kinder gab,
    vermittelt hätte. Heute spielt das keine Rolle mehr, aber damals, 1970, war jemand wie Chad
    Beckett, der an der Landung in der Normandie teilgenommen hatte, noch immer sehr angesehen. Es
    war viel Zeit vergangen, aber den mutigen Kampf gegen Hitler rechnete man diesen Männern
    durchaus noch an. Auf eine natürlich völlig irrationale Weise schien ihn die Tatsache, dass er
    sich fast noch als Kind freiwillig an die Front gemeldet hatte, von möglichen späteren
    Versäumnissen oder Fehlentscheidungen freizusprechen. Die Presse traute sich nicht recht an ihn
    heran, also ereiferte man sich eine Weile über seinen Vater, und dann war Ruhe.«
    »Und meine Großmutter?«, fragte Leslie. »Sie kam auch ziemlich ungeschoren davon, nicht
    wahr?«
    »Natürlich wurde sie als diejenige ermittelt, an deren Hand sozusagen Brian Somerville damals
    London verlassen hatte. Aber sie war elf Jahre alt gewesen! Noch keine sechzehn, als der Krieg
    endete. Längst wieder zurück in London. Wer hätte sie schon ernsthaft angegriffen?«
    »Wie kommt es, dass Sie aber das alles offenbar von Anfang an anders sahen?«, fragte Leslie.
    »Denn Sie machen Chad Beckett und Fiona Barnes ja durchaus verantwortlich!«
    Semiras Hand glitt ruhelos auf der Tischplatte umher. Sie war eine sehr nervöse Frau, stellte
    Leslie fest, bloß dauerte es eine Weile, bis man es bemerkte. Jahrzehntelang gepeinigt von
    einem Körper, der ihr Schmerzen und ständige Probleme bereitete, hatte sie sich offensichtlich
    eine eiserne Selbstbeherrschung angewöhnt, die jedoch bröckelte, wenn die Erschöpfung zu groß
    wurde. Semira Newton war jetzt erschöpft, das war ihr deutlich anzumerken. Vom langen Sitzen
    auf dem Holzstuhl, von der detaillierten Rekonstruktion ihres Lebenstraumas. Ihre Finger
    zitterten leicht.
    »Sehen Sie, mein Leben ist geprägt von dieser Geschichte«, sagte sie auf
    Leslies Frage, »ich war

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